Tanz im Dunkel
bisschen zu flirten. Ab und zu war auch ein Exemplar darunter, das meinte, dass sie käuflich wäre. Sie hatte bei den Schönheitswettbewerben Hunderte solcher Typen kennengelernt und genügend Erfahrung, wie sie mit dieser Sorte Mann umgehen musste, doch ihre Abscheu vor ihnen hatte nie nachgelassen. Normalerweise gelang es ihr, diese Männer mit einem Lächeln und einer diplomatischen Bemerkung abzulenken.
Rue und John Jaslow tanzten gerade neben Megan und ihrem Partner, einem Mann, der sich als Charles Brody vorgestellt hatte. Brody war dick und Mitte fünfzig. Ab dem Moment, als er Megans Hand genommen hatte, hatte er nicht mehr aufgehört zu verstehen zu geben, dass er hocherfreut wäre, wenn sie nach der Party mit ihm in ein Hotel ginge.
“Schließlich arbeiten Sie ja für Sylvia Dayton, nicht wahr?”, fragte Brody. Er streichelte ständig Megans Taille, anstatt seine Hand dort einfach liegen zu lassen. Rue sah ihren Tanzpartner sorgenvoll an. John Jaslow schien zwar beunruhigt, jedoch nicht bereit einzugreifen.
“Ich arbeite für Blue Moon, nicht Black-Moon”, antwortete Megan leise, aber bestimmt.
“Und Sie wollen mir damit sagen, dass Sie nach einem Auftritt wie heute einfach nach Hause gehen, Ihren Pyjama anziehen und ganz allein ins Bettchen schlüpfen?”
“Mr. Brody, genau das ist es, was ich Ihnen sage.”
Er schwieg einen Augenblick, und Rue und Mr. Jaslow lächelten sich erleichtert an.
“Dann suche ich mir eine andere Frau zum Tanzen, eine, die etwas entgegenkommender ist”, sagte Brody und ließ Megan abrupt los. Doch ehe er sich anschickte, die Tanzfläche zu verlassen, versetzte er der zierlichen Tänzerin einen groben Stoß.
Der Stoß kam so unerwartet und war so brutal, dass Megan das Gleichgewicht verlor und nach hinten taumelte. Mit einer schnellen Bewegung – so schnell, wie sie es sich selbst nie zugetraut hätte – trat Rue gerade noch rechtzeitig hinter Megan, um sie aufzufangen.
In Sekundenschnelle war Megan wieder auf den Beinen, und Mr. Jaslow und Sean kümmerten sich um sie.
Das entsetzte Murmeln der Gäste, die den Vorfall beobachtet hatten, wurde von erleichtertem Applaus abgelöst, als Megan und Mr. Jaslow nun schwungvoll über die Terrasse wirbelten.
“Lächle”, sagte Rue zu Sean. Doch er brachte kein Lächeln zustande. Er tanzte zwar mit ihr weiter, doch seine Lippen waren vor Wut zusammengekniffen.
“Wäre das vor hundert Jahren passiert, hätte ich ihn umgebracht”, sagte Sean.
Und nun lächelte er. Doch es war kein freundliches Lächeln. Rue konnte seine Fangzähne sehen.
Eigentlich hätte sie furchtbar erschrecken sollen.
Hätte entsetzt sein sollen.
Oder zumindest schwer verunsichert.
“Das ist so unglaublich nett von dir”, flüsterte sie. Ein Satz, den sie in ihrem Leben schon tausend Mal zu irgendwelchen Leuten gesagt hatte. Diese Mal allerdings meinte sie es ehrlich. Obwohl Sean die Situation entschärft hatte, bestand für Rue kein Zweifel, dass er Brody lieber verprügelt hätte – und beide Reaktionen gefielen ihr.
Noch fünf Minuten, dann war die Stunde vorbei, die sie auf der Party anwesend sein mussten. Langsam zogen sie sich zurück und begannen erschöpft, ihre Kostüme zusammenzulegen und für die Reinigung einzupacken. Danach schlüpften sie wieder in ihre eigenen Sachen, wobei Schamhaftigkeit diesmal kein Thema mehr war. Rue bekam ein schönes Schmetterlings-Tattoo auf Megans Po zu sehen und stellte fest, dass Thompson eine Blinddarmnarbe hatte. Doch es hatte nichts Anzügliches an sich, so viel übereinander zu wissen; sie waren schließlich alle Kollegen. Der Abend hatte irgendetwas an sich gehabt, das sie fester zusammengeschweißt hatte als je ein Auftritt zuvor.
Rue hatte jahrelang keine Freunde mehr gehabt.
Denny wartete am Nebeneingang. Die Türen des Kleinbusses waren offen, und als Rue auf die hintere Sitzbank geklettert war, stieg Sean nach ihr ein und setzte sich zu ihr. Einen Moment lang starrten die anderen Sean erstaunt an, da er für gewöhnlich vorne bei Denny saß, dann aber stieg auch Megan ein. Auf der mittleren Sitzbank nahmen Karl, Julie und Thompson Platz; Rick und Phil hatten sich vorne neben Denny gequetscht.
Es war furchtbar angenehm, hier einfach nur zu sitzen und nicht mit irgendjemandem höfliche Konversation betreiben zu müssen. Als der Bus startete und die lange Privateinfahrt der Jaslows entlang fuhr, machte Rue die Augen zu. Es war verlockend, sie die ganze Fahrt zurück in die Stadt
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