Tanz im Dunkel
gemeinsam mit Julie und Megan vor, um sich zu verbeugen, und während sie sich verneigte, sah sie aus dem Augenwinkel wieder Carver Hutton. Nachdem sie sich wieder aufgerichtet hatte, war er weg. Hatte sie Halluzinationen? Rasch zwang sie sich wieder zu einem professionellen Lächeln.
Dann liefen sie alle sechs in Haus zurück und winkten den Partygästen dabei zu wie echte polynesische Tänzer, die nur zufällig (fast) alle weißer Hautfarbe waren. In fünfzehn Minuten mussten sie – diesmal im Party-Outfit – wieder draußen auf der Terrasse sein. In der Zwischenzeit würde Denny James die Tonanlage abbauen und in den Kleinbus laden, weil anschließend noch eine Band spielen würde.
Während sie aus ihren Kostümen schlüpften, wandte Rue sich mit einer Bitte an ihre beiden Kolleginnen: “Julie, Megan, würde es euch beiden etwas ausmachen, die Perücken aufzubehalten?”
Die anderen Tänzer hörten auf, sich auszuziehen, und sahen zu Rue. Julie hatte eben halterlose Strümpfe angezogen und machte die Riemchen ihrer High Heels zu, und Megan war in ein dünnes, enges Kleid geschlüpft und entledigte sich gerade des Südsee-Röckchens, das sie noch darunter trug. Der männliche Teil der Tanztruppe hatte ihnen den Rücken zugekehrt, die Lendenschurze einfach abgestreift und war nun dabei, die Seidenhemden und eleganten Hosen anzuziehen, auf die sich die Tänzer im Vorfeld geeinigt hatten. Rick und Phil halfen Denny, die Kostüme und den anderen herumliegenden Krimskrams einzusammeln. Es musste alles im Bus verstaut werden.
Doch alle waren sichtlich erstaunt über Rues Bitte. Einen Moment lang herrschte Schweigen.
Julie und Megan wechselten einen schnellen Blick. “Kein Problem, warum nicht?”, sagte Julie. “Es ist nichts dabei. Wir haben alle die gleichen Klamotten an und können auch die gleichen Perücken tragen. Kein Problem.”
“Aber wir setzen unsere nicht mehr auf”, sagte Karl. Es war kein Protest, lediglich eine Feststellung.
“Okay”, sagte Megan. “Wir sehen mit unseren ja auch hübsch aus, während ihr Jungs ein bisschen doof damit wirkt.”
Karl und Thompson lachten, weil Megan im Grunde recht hatte. Sean allerdings sah Rue unverwandt an, als könnte er ihre Gedanken lesen, wenn er sie nur intensiv genug anstarrte. Phil, der wohl insgesamt ein außerordentlich schweigsamer Typ war, beobachtete Rue mit besorgter Miene. Zum ersten Mal wurde Rue klar, dass Phil wusste, wer sie war. Wie das Mädchen in der Bibliothek hatte er sie einfach von den Fotos in der Zeitung wiedererkannt.
Rue stellte fest, dass die schwarze Perücke eigentlich besser zu dem burgunderroten Kleid passte als ihr echtes braunes Haar. Sie selbst hätte sich nie für Burgunderrot entschieden, wenn sie die Wahl gehabt hätte. Megans Kleid war dunkelgrün, das von Julie bronzefarben. Die Männer trugen Hemden, die farblich zum Outfit ihrer Partnerinnen passten. Burgunderrot war auch nicht unbedingt Seans Farbe. Sie sahen sich an und zuckten gleichzeitig mit den Achseln.
Wenig später waren die drei Paare auf der Terrasse und tanzten zur Musik der Live-Band. Nachdem die Partygäste ein paar Minuten zugesehen hatten, gesellten sie sich ebenfalls zu ihnen auf die Tanzfläche. Nach einer Weile trennten sich die Profi-Tanzpaare, um mit den Gästen zu tanzen. Diesen Teil des Jobs fand Rue am anstrengendsten. Wie sie feststellen konnte, ging es ihrem Tanzpartner ganz ähnlich.
Sean machte nicht gern Smalltalk mit Leuten, die er sich nicht selbst ausgesucht hatte, und wirkte deswegen irgendwie steif. Thompson war bei den weiblichen Gästen – wie immer und überall – äußerst beliebt, und Karl wurde angehimmelt, weil er groß, blond und galant war. Sean wiederum schien eine gewisse Sorte von Frauen gleichzeitig abzustoßen und anzuziehen – Frauen, die insgeheim beziehungsweise ganz offensichtlich mit ihrem Leben unzufrieden waren. Sie wollten ein außergewöhnliches Erlebnis mit einem geheimnisvollen Mann, und niemand hatte das Geheimnisvolle besser drauf als Sean.
John Jaslow, der Gastgeber, lächelte Rue zu. Sie ging zu ihm, nahm ihn an der Hand und führte ihn auf die Tanzfläche. Er war ein angenehmer Mensch mit einer beginnenden Glatze, der nichts anderes von ihr zu erwarten schien als einen Tanz.
Es war leicht, einem Mann zu gefallen, dachte Rue nicht ohne Bitterkeit. Die meisten Männer waren schon glücklich, wenn man lächelte und den Eindruck erweckte, man würde es genießen, mit ihnen zu tanzen und ein
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