Tanz im Dunkel
anzuvertrauen, war die Angst um
seine
Sicherheit. Sean war stark, und Rue wusste mittlerweile, dass er keine Gnade kannte, wenn es galt, sie zu verteidigen, doch er war auch verletzlich, besonders bei Tageslicht. Einem plötzlichen Impuls nachgebend, legte sie die Arme um ihn. “Ich kann nicht”, sagte sie, den Kopf an seiner Brust. Sie konnte die Traurigkeit in ihrer eigenen Stimme hören.
Sein Körper wurde starr unter ihren Händen. Er war zu stolz, um zu betteln, das wusste sie. Den ganzen Weg zu Rues Wohnung sagte er kein Wort mehr.
5. KAPITEL
Als sie vor ihrem Haus angekommen waren, dachte sie, dass er gleich gekränkt verschwinden würde, doch zu ihrer Überraschung blieb er stehen. Er hielt ihre Tasche, während sie die Haustür aufschloss, und ging dann hinter ihr die Treppe hinauf. Obwohl Rue sich bestimmt nicht daran erinnern konnte, ihn hereingebeten zu haben, sagte sie ihm auch nicht, dass er gehen sollte. Sie merkte, dass sie sogar hoffte, er würde den ungestörten Ausblick auf ihre Kehrseite die ganzen zwei Stockwerke hinauf bewundern. Außerdem versuchte sie sich zu erinnern, ob sie heute Morgen ihr Bett gemacht und ihr Nachthemd weggeräumt hatte.
“Komm herein, bitte”, sagte Rue. Die Umgangsformen mit Vampiren waren ihr bekannt. Wenn sie zum ersten Mal bei jemandem auf Besuch waren, musste man eine Einladung aussprechen.
Rues Katze lief auf sie zu und beklagte sich lautstark, dass es längst Zeit fürs Abendessen wäre. Dann hob sie ihr kleines, schwarz-weißes Köpfchen, guckte erstaunt zu Sean hinauf und strich ihm um die Beine. Rue sah sich unauffällig in ihrer Wohnung um. Ja, das Bett war gemacht. Rasch schnappte sie ihr grünes Nachthemd, das am Fußende lag, knüllte es zusammen und ließ es unauffällig in einer Schublade verschwinden.
“Das ist Martha”, sagte sie fröhlich. “Du magst Katzen, hoffe ich.”
“Meine Mutter hatte sieben Katzen und hat – sehr zum Unmut meines Vaters – jeder einen Namen gegeben. Sie hat ihm erzählt, dass die Katzen die Ratten in der Scheune fressen würden, und das haben sie ja auch getan, doch meine Mutter hat ihnen auch heimlich Milch und Essensreste gegeben, wenn wir etwas übrig hatten.” Er bückte sich, um Martha auf den Arm zu nehmen. Die Katze beschnupperte ihn. Der Geruch eines Vampirs schien dem Tier nichts auszumachen. Sean kraulte ihr den Kopf, und Martha begann zu schnurren.
Die Scheune? Essensreste, wenn wir etwas übrig hatten? Das klang nicht gerade nach einer aristokratischen Familie. Doch eigentlich, dachte Rue traurig, hatte sie kein Recht, an ihrem Tanzpartner zu zweifeln.
“Möchtest du etwas trinken?”, fragte sie.
Sean war überrascht. “Rue, du weißt, ich trinke …”
“Hier, bitte.” Sie reichte ihm eine Flasche mit synthetischem Blut.
Sie war vorbereitet auf seinen Besuch, weil sie damit gerechnet hatte, dass es irgendwann passieren würde. Damit er sich willkommen fühlte, wenn es so weit war, hatte sie von dem wenigen Geld, das sie übrig hatte, etwas für Blut ausgegeben.
“Danke.”
“Es hat Zimmertemperatur. Ist das in Ordnung? Ich kann es sonst auch schnell warm machen.”
“Nein, das geht schon so, vielen Dank.” Er nahm die Flasche, öffnete sie und trank einen Schluck.
“Wo sind bloß meine Manieren geblieben? Bitte zieh doch deine Jacke aus und nimm Platz.” Sie deutete auf den einzigen gemütlichen Sessel im Raum, einen orangefarbenen Lehnstuhl mit Velours-Polsterung, der offensichtlich vom Sperrmüll gerettet worden war. Nachdem Sean sich gesetzt hatte (alles andere hätte sie gekränkt), nahm sie auf einem abgewetzten Klappstuhl Platz.
Rue versuchte gerade, ein Gesprächsthema zu finden, als Sean sagte: “Du hast noch ein bisschen Lippenstift auf deiner Unterlippe.”
Für den Abend bei den Jaslows hatten sich alle stark geschminkt, doch Rue hatte geglaubt, dass sie ihr Make-up nach dem Auftritt vollständig entfernt hatte. Sie dachte, wie lächerlich sie doch mit einem dicken, knallroten Fleck auf dem Mund aussehen musste. “Entschuldige mich einen Augenblick.” Sie ging in das winzige Badezimmer. Sobald sie verschwunden war, schnappte sich Sean blitzschnell ihr Adressbuch, das er neben dem Telefon entdeckt hatte.
Er hatte eine Rechtfertigung für diesen kleinen Spionageakt: Rue wollte ihm nicht alles erzählen, und er musste mehr über sie erfahren. Sicher, sein Vorgehen war nicht gerade das eines Aristokraten, doch er konnte das schlechte Gewissen wegen dieses unedlen
Weitere Kostenlose Bücher