Tanz im Mondlicht
fragte Sylvie.
Chloe schnappte nach Luft. »Woher kennst du meinen Traum?«
»Ich habe ihr davon erzählt«, gestand Jane.
Sie blickten sich an. Jane sah, wie Chloes kleine graue Zellen arbeiteten, als ihr bewusst wurde, dass die Bekanntschaft Jane genug bedeutete, um ihrer Schwester davon zu erzählen. Wenn Chloe wüsste, dass sie ihre Gefühle kaum zu zügeln vermochte, während sie verfolgte, wie sich ihre Schwester und ihre Tochter miteinander bekannt machten. Ihre Haut prickelte wie im Fieber. Sie brannte darauf, die Wahrheit zu sagen, Chloe wissen zu lassen, dass Sylvie ihre Tante war.
»Ein schönes Bild«, lobte Sylvie. »Sehr phantasievoll. Ich wette, deine Lehrer sind begeistert von dir.«
Chloe schnaubte. »Würde ich mir auch wünschen, aber Fehlanzeige. Meine Biologielehrerin kann mich nicht leiden, weil ich mich geweigert habe, Frösche zu zerlegen, und meine Englischlehrerin hält mich für geistig minderbemittelt, weil ich mir Charles Dickens als Thema für meine Trimester-Hausarbeit ausgesucht und eine Studie durchgeführt habe: Die Waisenhäuser in England während des Viktorianischen Zeitalters, verglichen mit den sogenannten
›Animal Control‹
-Einrichtungen im modernen Amerika – beide sind barbarisch!«
»Ja, Chloe setzt sich für den Tierschutz ein, und wir interessieren uns beide für Literatur über Waisenhäuser«, vertraute Mona ihnen an. Janes Magen verkrampfte sich.
»Wieso das?«, fragte Sylvie.
»Meine Mutter ist tot, und Chloe wurde von ihrer leiblichen Mutter abgeschoben.«
Sylvie schwieg. Sie hatte die Hände vor dem Körper verschränkt, wie eine Lehrerin, die vor ihrer Klasse steht und mit dem Unterricht beginnen will. Jane hatte einen Kloß im Hals. Sie räusperte sich und wandte den Blick ab, wünschte sich, sie könnte Chloe erzählen, was sie wirklich empfunden hatte … aber das war unnötig. Sylvie nahm ihr die Aufgabe ab.
»Ich kenne eine Frau, die ihr Baby zur Adoption freigegeben hat«, sagte Sylvie ruhig. »Es war die schlimmste Entscheidung ihres ganzen Lebens. Und obwohl ich nicht in all ihre Gedanken eingeweiht war, weiß ich eines: Sie hätte ihr Kind nie
abgeschoben
. Niemals. Eines habe ich während meiner Zeit als Schulbibliothekarin gelernt: Es kommt oft vor, dass der Schein trügt. Die Literatur ist ein Mittel, um uns das vor Augen zu führen.«
»Der Schein trügt«, wiederholte Chloe. »Du meinst …«
»Ich meine, sie hat dich vielleicht nicht freiwillig hergegeben.«
»Sie könnte dazu gezwungen worden sein«, ergänzte Chloe.
Sylvie nickte. »Rein theoretisch wäre das möglich.« Jane hielt sich zurück. Sylvies Stimme war klar und unmissverständlich, wie die einer Schulleiterin. Beide Mädchen hörten aufmerksam zu, und Jane spürte, wie Tränen in ihre Augen stiegen.
»Adoptionen sind immer mit so viel Geheimniskrämerei verbunden«, sagte Mona. »Keiner weiß, wer die leiblichen Eltern sind, warum sie die Entscheidung getroffen haben oder wo sie jetzt leben. Verglichen mit anderen Geschichten, meine ich. Mit meiner, zum Beispiel. Meine Mutter wurde krank; sie starb; mein Vater heiratete eine Hexe.«
»Es wäre schön für mich, zu wissen, dass sie mich nicht freiwillig weggegeben hat.« Chloe sah Sylvie an, als hätte Mona kein Wort gesagt.
»Du solltest die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass sie lieber sterben würde, als dich in dem Glauben zu lassen, sie hätte dich ›auf den Dachboden abgeschoben‹«, sagte Sylvie mit derselben Stimme, die wie die eines Gelehrten klang. »Obwohl ich dir zu der literarischen Metapher gratulieren muss. Der Dachboden ist eine Rumpelkammer für Dinge, die man nicht mehr braucht. Ich glaube nicht, dass deine leibliche Mutter dich dorthin verbannt hätte.«
»Jane, du hast eine coole Schwester«, sagte Chloe. Jane hatte ihr den Rücken zugewandt, um zu verbergen, wie nahe ihr Sylvies Worte und Unterstützung gingen. »Sie versteht, was ich meine.«
»Ja, das tut sie«, sagte Jane, als sie wieder in der Lage war, sich umzudrehen. »Sie versteht alles.«
Kapitel 21
S ollen wir vor oder nach dem Besuch bei deiner Mutter essen gehen?«, fragte John Sylvie, als sie zum Krankenhaus fuhren.
Sie blickte gedankenverloren aus dem Fenster. Ihr Herz klopfte noch immer. Sie hatte die Tochter ihrer Schwester kennengelernt – ihre Nichte! Sie sah zu John hinüber und überlegte, was er wohl von der ganzen Geschichte halten würde.
»Einen Penny für deine Gedanken«, sagte er.
»Ich dachte gerade an
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