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Tanz mit dem Schafsmann

Tanz mit dem Schafsmann

Titel: Tanz mit dem Schafsmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Spitzenbegabungen begegnet man selten. Es ist schon ein Glücksfall, wenn man ein Genie erlebt, es mit eigenen Augen sehen kann. Und doch …« Er hielt inne und machte eine hilflose Geste, wenn auch nur mit einem Arm. »In gewissem Sinne kann es eine sehr schmerzliche Erfahrung sein. Manchmal versetzt es meinem Ego einen Stich.«
    Während ich ihm zuhörte, betrachtete ich die Wolke über dem Horizont. In dieser Bucht herrschte eine wilde Brandung, die Wellen brachen sich tosend am Strand. Ich grub die Finger in den heißen Sand, nahm eine Hand voll auf und ließ ihn herabrieseln. Immer und immer wieder. Die Surfer passten die Wellen ab, und wenn sie an den Strand geworfen wurden, paddelten sie wieder aufs Meer hinaus.
    »Aber selbst dann«, fuhr Dick fort, »das heißt, obwohl mein Ego leidet – bin ich von ihrer Begabung fasziniert. Ich liebe sie desto mehr.« Dann schnippte er mit den Fingern. »Es ist, als würde man in einen mächtigen Strudel hineingezogen. Wissen Sie, ich bin verheiratet. Mit einer Japanerin. Wir haben ein Kind. Ich liebe meine Frau. Wirklich. Auch jetzt noch. Aber als ich Ame begegnet bin, fühlte ich mich sofort zu ihr hingezogen. Als wäre ich in einen Strudel geraten. Ich konnte nichts dagegen tun. Ich wusste es sofort. So etwas geschieht einem nur einmal im Leben. Eine solche Begegnung ist einzigartig. Mir war klar, wenn ich mit ihr ginge, würde ich es irgendwann bereuen, aber es nicht zu tun, würde die Bedeutung meiner Existenz schmälern. Haben Sie schon einmal ein solches Gefühl erlebt?«
    »Ich glaube nicht«, erwiderte ich.
    »Seltsam«, fuhr er fort. »Ich habe so hart dafür gekämpft, mir ein ruhiges, sicheres Leben aufzubauen. Eine Frau, ein Kind, ein nettes Häuschen und mein Beruf. Ich habe keine Unsummen verdient, aber es war eine sinnvolle Arbeit. Ich habe Gedichte geschrieben und übersetzt. Für mich war es ein gelungenes Leben. Ich habe im Krieg einen Arm verloren, aber ich denke, ich habe den Verlust wettgemacht. Wie viel Zeit und Mühe es mich gekostet hat, meinen Seelenfrieden zu finden! Ein dorniger Weg, aber ich habe es geschafft. Und dann …« Er hob die Hand und machte eine Wischbewegung. »In einem Augenblick war alles dahin. Zack und weg. Ich habe alles aufgegeben. Mein Zuhause in Japan, und auch in Amerika gehöre ich nirgendwo mehr hin. Ich bin zu lange fort gewesen.«
    Ich hätte ihm gern ein paar tröstende Wort gesagt, aber mir fielen keine ein. Ich schaufelte weiterhin Sand und ließ ihn durch die Finger rieseln. Dick stand auf, lief ein paar Meter zu einem Busch, um zu pinkeln, und kam dann langsam zurückgetrottet.
    »Beichtstunde«, sagte er lachend. »Ich musste es einfach mal loswerden. Wie denken Sie darüber?«
    Was sollte ich darauf antworten? Wir sind beide über dreißig, also reife Erwachsene. Man sucht sich selber aus, mit wem man schläft, und ob nun Strudel, Tornado oder Sandsturm, die Wahl, dieses oder jenes zu tun, trifft man ganz und gar selbst. Auf mich machte dieser Dick North einen guten Eindruck. Ich bewunderte ihn dafür, wie er trotz seiner Behinderung alle möglichen Schwierigkeiten meisterte. Aber diese Schwierigkeit hatte wahrscheinlich tiefere Gründe.
    »Erstens bin ich kein künstlerisch begabter Mensch«, sagte ich. »Daher kann ich nicht ermessen, was es bedeutet, zu jemandem eine Beziehung zu haben, die von der Kunst inspiriert ist. Das übersteigt meine Vorstellungskraft.«
    Leicht betrübt schaute Dick aufs Meer hinaus. Er schien noch etwas sagen zu wollen, schwieg dann aber. Ich schloss die Augen. Ich wollte sie eigentlich nur kurz schließen, aber ich döste ein. Das Bier hatte mich wahrscheinlich doch müde gemacht. Als ich wieder aufwachte, war der Baumschatten gewandert und fiel auf mein Gesicht. Von der Hitze war ich ganz benommen. Meine Uhr zeigte halb drei. Ich schüttelte den Kopf und setzte mich auf. Ich sah Dick North am Ufer mit einem Hund spielen. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich mitten im Gespräch eingenickt war und ihn damit vielleicht verletzt hatte.
    Aber was hätte ich sagen sollen?
    Ich schaufelte wieder Sand und sah zu, wie er mit dem Hund herumtollte. Der Poet hatte seinen einen Arm um den Nacken des Hundes gelegt. Die Wellen brachen sich geräuschvoll am Ufer und zogen sich mit einem kräftigen Sog zurück. Die weiße Gischt schimmerte gleißend. War ich zu kaltherzig? Natürlich konnte ich seine Gefühle nachvollziehen. Egal ob einarmig oder unversehrt, Dichter oder nicht, wir

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