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Tanz mit dem Schafsmann

Tanz mit dem Schafsmann

Titel: Tanz mit dem Schafsmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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der Strom mal ausfällt. Darum wollte ich mich vergewissern, was los war, und tastete mich den Korridor entlang.«
    »In welche Richtung?«
    »Nach rechts«, sagte sie und hob die rechte Hand, um sich zu vergewissern, dass sie sich nicht irrte. »Ich tastete mich also langsam vorwärts, Schritt für Schritt. Nach einer Weile bog der Korridor nach rechts ab und verlief schnurgerade weiter. Plötzlich erkannte ich ganz hinten ein schwaches Licht. Kaum wahrnehmbar, wie ein ganz weit entfernter Kerzenschein, der durch die Dunkelheit schimmert. Mein erster Gedanke war, dass jemand Kerzen gefunden und sie angezündet hatte. Ich ging weiter, und als ich näher kam, erkannte ich, dass das Licht aus einem Zimmer fiel. Die Tür war nur angelehnt. Selbst die wirkte fremd. Solche altmodischen Türen gibt es gar nicht in unserem Hotel. Jedenfalls kam das Licht aus diesem Zimmer. Ich blieb davor stehen und wusste nicht so recht, was tun. Vielleicht war da jemand drin. Wenn nun irgendein komischer Typ rauskäme? Und überhaupt, was hatte diese merkwürdige Tür hier zu suchen? Vorsichtshalber klopfte ich erst mal an. Ganz sachte, eigentlich kaum hörbar. Aber seltsamerweise hallte es lauter als beabsichtigt. Wahrscheinlich wegen der Totenstille. Keine Reaktion. Ich wartete zehn Sekunden, wie angewurzelt stand ich da, ohne die leiseste Ahnung, was ich tun sollte. Plötzlich hörte ich ein Rascheln. Es klang, als würde sich jemand mit ganz schweren Klamotten vom Boden erheben. Dann hörte ich Schritte. Schleppende Schritte. Schlurf, schlurf, schlurf, als hätte derjenige Latschen an. Die Schritte kamen näher und näher.«
    Sie blickte nach oben, um sich auf das Geräusch zu besinnen.
    »Als ich das hörte, bin ich durchgedreht. Für mein Empfinden waren das keine menschlichen Schritte. Es gab natürlich keinen Grund zu dieser Annahme, es war nur so eine Ahnung. Mir wurde zum ersten Mal bewusst, was es heißt, wenn es einem eiskalt über den Rücken läuft. Der Rücken kann einem wirklich gefrieren, nicht nur bildlich gesprochen. Ich rannte wie besessen los. Ich muss wohl ein paar Mal hingefallen sein, denn meine Strümpfe waren zerrissen. Ich kann mich kaum erinnern. Ich weiß nur noch, dass ich rannte. In Panik. Was, wenn der Fahrstuhl immer noch nicht ging? Doch Gott sei Dank war alles wieder beleuchtet, als ich dort ankam. Der Fahrstuhl befand sich im Erdgeschoss. Als ich den Knopf drückte, setzte er sich in Bewegung. Aber unglaublich langsam, in einem grauenvollen Schneckentempo: erste Etage … zweite Etage … dritte Etage. Nun mach schon, nun mach schon, fieberte ich, doch es half nichts. Er brauchte eine Ewigkeit. Als ob er mich terrorisieren wollte.« Sie holte tief Luft und nahm einen Schluck Bloody Mary. Dann fummelte sie nervös an ihrem Ring.
    Ich wartete auf die Fortsetzung. Die Musik hatte aufgehört zu spielen. Jemand lachte.
    »Ich hörte immer noch diese Schritte … schlurf … schlurf … schlurf, sie kamen näher. Immer näher und näher … schlurf … schlurf … schlurf … den Gang entlang auf mich zu. Ich war außer mir vor Angst. Solche Angst hatte ich im Leben noch nicht gehabt. Der Magen sprang mir bis zur Kehle. Ich war klitschnass – kalter, übel riechender Schweiß. Das eiskalte Grauen. Der Fahrstuhl war noch längst nicht da. Sieben … acht … neun. Und die Schritte kamen immer näher.«
    Etwa dreißig Sekunden vergingen, in denen sie an ihrem Ring drehte, als suchte sie einen Radiosender. Eine Frau auf einem Barhocker sagte etwas, worauf ihr Begleiter erneut lachte. Könnte sich denn nicht mal jemand erbarmen und schnell eine Platte auflegen, dachte ich.
    »Es lässt sich kaum beschreiben, wie ich mich gefühlt habe. Das muss man selbst erlebt haben.« Ihre Stimme klang trocken.
    »Und was geschah dann?«
    »Ich merkte plötzlich, dass die Fahrstuhltür bereits offen stand«, sagte sie mit einem leichten Achselzucken. »Aus der Kabine drang das vertraute Licht, und ich stolperte buchstäblich hinein. Irgendwie schaffte ich es, den Knopf zur Empfangshalle zu drücken, obwohl ich am ganzen Leib zitterte. Als ich herauskam, muss ich alle zu Tode erschrocken haben. Leichenblass, sprachlos und vor Angst schlotternd stand ich vor ihnen. Der Manager kam und wollte wissen, was los sei. Ich versuchte ihm zu erklären, was da für unheimliche Dinge im sechzehnten Stock vor sich gingen, aber ich stotterte vor Aufregung bloß wirres Zeug. Er unterbrach mein Gestammel, rief jemanden vom Personal, und wir

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