Tanz mit dem Schafsmann
Die Menschen huldigten der Dynamik des Kapitals, beteten den Mythos an, fielen vor Tokyoter Bodenpreisen und blitzenden Porschekarossen auf die Knie. Das war der Stoff, aus dem Mythen geschaffen wurden.
Die hochkapitalistische Gesellschaft. Egal, ob es einem passte oder nicht, wir lebten in diesen Zeiten. Selbst die Maßstäbe für Gut und Böse wurden immer differenzierter, subtiler. Das Gute war unterteilt in das zeitgemäße Gute und das unzeitgemäße Gute. Beim Bösen war es genauso. Das modische Gute splittete sich wiederum auf in formell und salopp, in hip, cool, trendy und snobistisch. Oder man fand Gefallen an einer Mixtur. Wie man einen Missoni-Pullover zu einer Trusardi-Jeans und Pollini-Schuhen trägt, kann man sich auch moralisch an Stilkombinationen erfreuen. Das war der Gang der Dinge – Philosophie mutierte langsam, aber sicher zur Wirtschaftslehre.
Auch wenn ich seinerzeit noch nicht dieser Ansicht war, muss ich sagen, die Welt war 1969 noch einfach gestrickt. Für die eigene Identifikation genügte es, anstürmende Polizisten mit Steinen zu bewerfen. Doch heutzutage, wo eine raffinierte Weltanschauung auf den Plan getreten ist, wer würde da noch mit Steinen schmeißen? Wer würde sich durch Tränengas hindurchkämpfen? Die Gegenwart sieht so aus: Alles ist manipuliert und eingespannt in ein riesiges Netz, außerhalb dessen wieder ein anderes Netz existiert. Man kann nirgendwo mehr hin. Wirft man einen Stein, kommt er gleich zurückgeflogen.
Der Journalist hatte eine Menge Energie aufgewandt, um seinem Verdacht nachzugehen. Doch trotz seiner Entrüstung – oder gerade wegen seiner Entrüstung – fehlte es dem Artikel an Überzeugungskraft. Er besaß nicht den Impetus eines Appells. Der Typ hatte es anscheinend nicht geschnallt. An der ganzen Angelegenheit war nichts Verdächtiges. Ein natürlicher Vorgang des fortgeschrittenen Kapitalismus. Das weiß heutzutage jedes Kind, deshalb nimmt auch keiner Notiz davon. Wenn Großkapital sich illegal Informationen verschafft und Grundstücke aufkauft, politische Beschlüsse erzwingt und Yakuza als Handlanger anheuert, um einen kleinen Schuhladen zu erpressen oder den Betreiber eines ausgedienten Minihotels zu verprügeln, wen kümmert’s? So spielt das Leben. Die Zeit ist ständig in Bewegung, wie Treibsand. Wir stehen nicht mehr länger da, wo wir einmal gestanden haben.
Der Artikel war meiner Meinung nach schon eine Glanzleistung. Gut recherchiert und voller Gerechtigkeitsempfinden. Er lag nur nicht im Trend.
Ich steckte die Kopie zusammengefaltet in die Jackentasche und trank noch eine Tasse Kaffee. Der Geschäftsführer des alten Delfin kam mir in den Sinn. Ein geborener Unglücksrabe, gestraft mit permanenten Niederlagen. Wie sollte er mit dem Strom der Zeit mithalten können?
»Eben nicht im Trend«, sagte ich laut.
Die Bedienung warf mir einen missbilligenden Blick zu.
Ich nahm ein Taxi und fuhr zum Hotel zurück.
8
Vom Hotelzimmer aus rief ich meinen Expartner in Tokyo an. Jemand Unbekanntes meldete sich und fragte nach meinem Namen, worauf eine weitere mir unbekannte Person ans Telefon kam und ebenfalls nach meinem Namen fragte, bis ich ihn schließlich persönlich an der Strippe hatte. Er wirkte beschäftigt. Es war fast ein Jahr her, seit wir das letzte Mal miteinander geredet hatten. Nicht, dass ich ihm bewusst aus dem Weg gegangen wäre, ich hatte ihm nur einfach nichts zu sagen. Ich hatte ihn immer gern gemocht, das tat ich jetzt noch. Aber er war für mich eben eine »bereits durchlaufene Zone« (so wie ich für ihn), womit ich nicht sagen will, dass wir uns gegenseitig in diese Position abgeschoben hatten. Jeder ging einfach seiner Wege, und die schienen sich nicht zu kreuzen. Nicht mehr und nicht weniger.
Na wie geht’s? fragte er.
Ach, ganz gut, antwortete ich.
Ich erzählte ihm, ich sei in Sapporo, worauf er meinte, dass es dort doch sicher kalt wäre.
Oh ja, ziemlich, antwortete ich.
Was macht die Arbeit? fragte ich als Nächstes.
Viel zu tun, lautete die knappe Antwort.
Ich hoffe, du besäufst dich nicht zu oft.
In letzter Zeit trinke ich nicht so viel, entgegnete er.
Und, schneit es da schon? fragte er darauf.
Im Moment nicht, erwiderte ich.
Unser Höflichkeitsgeplänkel zog sich eine Weile hin. »Hör mal«, unterbrach ich die Banalitäten. »Ich würde dich gern um einen Gefallen bitten.« Ich hatte ihm vor längerer Zeit auch einen getan, und er hatte es ebenso wenig vergessen wie ich.
Eigentlich bin ich
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