Tanz mit dem Schafsmann
anscheinend nicht mehr benutzt.
Aus den Lautsprechern tönte leise Berieselungsmusik: Love is blue von Paul Mauriat. Ich drückte den Knopf. Der Fahrstuhl riss sein Haupt hoch, als würde er aus dem Schlaf schrecken. Die Stockwerkziffern auf der Digitalanzeige kletterten aufwärts: 1, 2, 3, 4, 5, 6 … Langsam, aber stetig rückte er näher. Ich starrte auf das Display, während Love is blue erklang. Falls jemand in der Kabine wäre, konnte ich behaupten, ich hätte den Lift mit dem Gästeaufzug verwechselt. 11, 12, 13, 14 … Er arbeitete sich weiter hoch. Ich trat einen Schritt zurück und wartete, die Hände in den Taschen, bis er aufging.
Bei 15 stoppte der Aufzug. Einen Moment regte sich nichts, dann glitt die Tür auf. Es war niemand drinnen.
Gespenstisch leise, dachte ich. Ganz anders als die asthmatisch keuchende Rappelkiste im alten Delfin. Ich trat in die Kabine und drückte 16. Die Tür glitt lautlos zu. Ich spürte eine leise Bewegung, und die Tür öffnete sich wieder. Die 16. Etage. Keine Spur von Dunkelheit. Der Flur war hell erleuchtet, und von der Decke dudelte noch immer Love is blue. Es roch auch nicht muffig. Ich inspizierte den gesamten Korridor. Es war das gleiche Labyrinth wie im 15. Stock: verwinkelte Gänge mit einer Flut von Gästezimmern. Dazwischen befanden sich vereinzelt Getränkeautomaten und etliche Aufzüge. Vor einigen Türen stand gebrauchtes Geschirr vom Zimmerservice. Der tiefrote, hochwertige Teppichflor verschluckte das Geräusch meiner Schritte. Es herrschte insgesamt eine gedämpfte Stille. Die Musik wechselte zu The Theme from A Summer Place, gespielt vom Percy Faith Orchestra.
Nachdem ich das Ende der Etage erreicht hatte, machte ich kehrt und bog nach rechts ab, wo ich dann mit dem Personalaufzug in den 15. Stock zurückkehrte. Dort wiederholte ich die gesamte Prozedur: Ich fuhr mit dem Personalaufzug eine Etage höher und fand den gleichen hell erleuchteten Flur vor wie zuvor. A Summer Place dudelte immer noch.
Ich gab auf und kehrte in mein Zimmer zurück. Nach zwei Schlucken Brandy war ich bettreif.
Als der Morgen dämmerte, ging das Schwarz in Grau über. Es schneite. Nun, überlegte ich, was liegt heute an?
Natürlich nichts – wie immer.
Ich stapfte durch den Schnee zum Dunkin’ Donuts, wo ich Zeitung lesend mein Standardfrühstück – ein paar Donuts und zwei Becher Kaffee – zu mir nahm. Es wurde über die Wahlen berichtet. Ich studierte das Kinoprogramm. Wie üblich nichts, was mich interessierte, bis auf einen Film, in dem ein ehemaliger Mitschüler, der Filmschauspieler geworden war, eine Nebenrolle spielte. Unerwiderte Liebe lautete der Titel. Ein Jugendfilm aus dem Schulmilieu mit einem weiblichen Teenie-Star und einem ebenso populären Sängeridol. Ich konnte mir vorstellen, was für eine Rolle mein ehemaliger Mitschüler spielte: einen jugendlichen, smarten, verständnisvollen Lehrer. Groß, schlank, Sportskanone, von Schulmädchen belagert, die reihenweise in Ohnmacht fielen, sobald sie nur seinen Namen hörten. Die Hauptdarstellerin himmelt ihn natürlich ebenfalls an. Eines Sonntags bringt sie ihm selbst gebackene Kekse vorbei. Und dann gibt es da noch einen Jungen, der in sie verknallt ist: der Typ von nebenan, bisschen schüchtern. So in etwa das Schema F. Dazu braucht man nicht viel Phantasie.
Zu Beginn seiner Schauspielerkarriere hatte ich mir teils aus Neugier eine Zeit lang einige Filme mit ihm angeschaut. Danach hatte ich keinen mehr gesehen. Es war immer der gleiche Stuss. Er war auf sein Image abgestempelt. Gut aussehend, hochgewachsen, sportlich, adrett. Anfangs spielte er noch Studenten, später mimte er Ärzte, Lehrer oder Eliteangestellte. Immer das gleiche Strickmuster. In seinen Rollen war er von Mädchen umschwärmt. Steriles Zahnpastalächeln, irre sympathisch. Doch für solchen Quatsch ist mir mein Geld zu schade. Ich bin zwar kein snobistischer, gequält ernst dreinschauender Cineast, der nur auf Tarkowski oder Fellini steht, aber die Filme, in denen er auftrat, waren nun einmal der letzte Schund. Billigproduktionen mit klischeehafter Handlung und abgedroschenen Dialogen, bei denen sogar die Regisseure den Geist aufgegeben haben.
Doch wenn man es sich recht überlegte, hatte er im realen Leben bereits vor seiner Laufbahn als Schauspieler einen solchen Typen verkörpert. Positive Ausstrahlung, aber irgendwie auch undurchschaubar. Wir waren zwei Jahre lang auf der Mittelschule in derselben Klasse, und bei
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