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Tanz mit dem Schafsmann

Tanz mit dem Schafsmann

Titel: Tanz mit dem Schafsmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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und braucht einen Ort zum Ausruhen, dachte ich. Und ich bin der Baum zum Rasten. Es tat mir leid, dass sie so erschöpft war. Wie unlogisch und unfair, dass eine junge, hübsche Frau wie sie so unter Stress stand. Aber eigentlich war es weder unlogisch noch unfair. Erschöpfung schert sich nicht um Alter oder Schönheit. Wie Schnee und Erdbeben, Gewitter und Überschwemmungen.
    Nach fünf Minuten hob sie den Kopf, stand auf und zog ihren Blazer wieder an. Sie setzte sich aufs Sofa und fummelte an ihrem Ring. In der Uniform wirkte sie etwas steif und distanziert. Ich blieb auf dem Bett sitzen und schaute sie an.
    »Sag mal, die Sache neulich im 16. Stock … Gab es da irgendetwas Ungewöhnliches? Ich meine, bevor du in den Aufzug gestiegen oder während du hinaufgefahren bist?«, fragte ich.
    Sie neigte den Kopf ein wenig zur Seite, während sie überlegte. »Hm … Ich glaube nicht. Ich kann mich nicht so genau erinnern.«
    »Wies gar nichts darauf hin, dass etwas anders war als sonst?«
    »Nicht, dass ich wüsste«, sagte sie achselzuckend. »Es war alles wie immer. Der Aufzug fuhr ganz normal. Nur dass es stockdunkel war, als die Tür aufging. Sonst nichts.«
    Ich nickte. »Wie wär’s mit einem gemeinsamen Abendessen?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, aber heute habe ich schon eine Verabredung.«
    »Und morgen?«
    »Morgen Abend gehe ich zum Schwimmkurs.«
    »Schwimmkurs?« Ich musste lächeln. »Im alten Ägypten hatten sie auch Schwimmkurse. Wusstest du das?«
    »Nein«, erwiderte sie, »aber das ist doch gesponnen, oder?«
    »Nein, wirklich, ich spinne nicht. Ich habe es bei einer Auftragsarbeit recherchiert.« Es stimmte tatsächlich, was jedoch meine Situation nicht verbesserte.
    Sie sah auf ihre Armbanduhr und erhob sich. »Danke«, sagte sie und schlüpfte genauso lautlos aus dem Zimmer, wie sie hereingekommen war. Das also war das einzige Highlight des Tages. Ein bescheidener Höhepunkt. Ich stellte mir die alten Ägypter vor, die gewiss ein anspruchsloses Leben geführt und sich über belanglose Ereignisse gefreut hatten, bis der Tod sie ereilte. Sie lernten schwimmen und wickelten Mumien ein. Und die Gesamtheit solcher Leistungen nennt man dann Zivilisation.

9
    Um elf Uhr nachts hatte ich nichts mehr zu tun. Was es zu tun gab, hatte ich getan. Ich hatte mir die Nägel geschnitten, ein Bad genommen, mir sogar die Ohren geputzt und die Nachrichten geguckt. Hatte Liegestützen und Stretchübungen gemacht, zu Abend gegessen und mein Buch ausgelesen. Müde war ich allerdings noch nicht. Ich wollte noch einmal den Personalaufzug testen, doch dafür war es noch zu früh. Es war besser, bis nach Mitternacht zu warten, wenn kaum noch Angestellte unterwegs waren.
    Nach längerem Zögern beschloss ich, in die Bar in der 26. Etage zu gehen. Dort schaute ich bei einem Martini in die grenzenlose verschneite Dunkelheit hinaus und dachte über die alten Ägypter nach. Was für ein Leben mochten sie geführt haben? Was waren das für Leute, die Schwimmschulen besucht hatten? Vermutlich nur solche aus der Oberschicht, aus der Sippe der Pharaonen oder Aristokraten. Trendbewusste Jetset-Ägypter. Für diese Luxusgeschöpfe wurde bestimmt ein Teil des Nils abgesperrt, oder man baute besondere Becken für sie, wo ihnen elegante Schwimmtechniken beigebracht wurden. Natürlich von einem smarten, netten Trainer wie meinem Klassenkameraden, dem Filmstar, der mit wichtigtuerischer Miene Seine Hoheit hofiert: Ausgezeichnet, mein Gebieter, sehr schön. Nur vielleicht sollte Eure Hoheit den rechten Arm ein klein bisschen mehr strecken, wenn Ihr krault.«
    Ich konnte mir die Szenen lebhaft ausmalen. Tintenblaues Nilwasser, gleißendes Sonnenlicht (die Dächer sind natürlich mit Schilf gedeckt), mit Speeren bewaffnete Krieger, die Krokodile und den Pöbel vertreiben, wogendes Schilf und die Pharaonensöhne. Und was war mit den Pharaonentöchtern? Ob sie wohl auch schwimmen lernten? Man denke an Kleopatra. Kleopatra in jungen Jahren aussehend wie Jodie Foster. Ob sie auch beim Anblick meines Schwimmlehrer-Freundes in Ohnmacht gefallen wäre? Vermutlich. Dafür ist er ja da.
    So einen Film müsste jemand drehen. Den würde ich mir sogar anschauen.
    Der Schwimmlehrer ist selbstverständlich nicht von niederer Herkunft. Er ist der Nachkomme eines assyrischen oder israelischen Königsgeschlechts, der im Krieg verschleppt und als Sklave verkauft wurde. Doch auch als Sklave hat er seine Würde nicht im Geringsten

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