Tanz, Pueppchen, Tanz
werfen, die Treppe hinaufzustürmen und ihm Gesellschaft zu leisten. Er ist hier. Er ist nicht gegangen. »Es tut mir schrecklich Leid, Mrs. MacGiver«, sagt sie und versucht das Lächeln zu unterdrücken, das sich über ihr ganzes Gesicht breitet. »Ich habe Ihren Tee ganz vergessen.«
»Du hast ihn vergessen?«
»Der gestrige Tag ist nicht gerade planmäßig verlaufen.«
»Du hast meinen Tee vergessen«, wiederholt Mrs. MacGiver ungläubig.
Die Ereignisse des vergangenen Tages spulen sich in umgekehrter Reihenfolge vor Amandas Augen ab wie ein Video, das im Schnelldurchlauf rückwärts läuft. Sie sieht ihre Mutter in dem Krankenhausbett liegen, die kilometerlangen Baustellen entlang dem Gardiner Expressway, die Lobby des Four Seasons Hotels, Hayley Mallins am Fenster ihrer Hotelsuite. Nein, nicht Hayley Mallins. Hayley Walsh.
»Ich habe gestern jemanden getroffen, an die Sie sich vielleicht erinnern«, erklärt Amanda Mrs. MacGiver, um ein wenig höfliche Konversation zu machen, während sie versucht, sie wieder aus der Tür zu schieben. »Hayley Walsh, Mr. Walshs Tochter. Erinnern Sie sich an ihn? Er hat nebenan gewohnt.«
»Der elende Dreckskerl«, sagt Mrs. MacGiver überraschend vehement. »Natürlich erinnere ich mich an ihn. Er war ein hundsgemeiner Kerl.«
»Ja, meine Mutter mochte ihn auch nicht besonders.«
»Angeblich hat er seine Frau geschlagen. Und seine Söhne. Bis sie alt genug waren zurückzuschlagen.«
Kein Wunder, dass seine Tochter nach England durchgebrannt ist, denkt Amanda. Sie wollte offensichtlich so weit wie möglich weg von dem Mann.
»Du hast gesagt, du hast seine Frau getroffen?«, fragt Mrs. MacGiver. »Ich dachte, sie wäre tot.«
»Ich habe seine Tochter getroffen«, verbessert Amanda sie.
»Nein.« Mrs. MacGiver schüttelt den Kopf. »Mr. Walsh hatte keine Tochter.«
Oben geht stotternd die Dusche aus.
»Doch. Sie hat immer auf mich aufgepasst, als ich klein war. Sie hat mich ihr Püppchen genannt.« Amanda hüpft wie von Fäden gezogen auf und ab. »Wissen Sie noch – ›Püppchen, Püppchen, wer ist mein kleines Püppchen‹?«
Mrs. MacGiver starrt Amanda an, als ob sie völlig von Sinnen wäre. »Das war nicht Mr. Walshs Tochter.«
»Wie meinen Sie das?«
Mrs. MacGiver lacht und droht Amanda schalkhaft mit dem Finger, als hätte sie versucht, die alte Frau hinters Licht zu führen. »Das war Lucy.«
»Lucy? Wer zum Teufel ist Lucy?«
Plötzlich taucht auf dem oberen Treppenabsatz Ben auf, ein Handtuch um die feuchten Hüften geschwungen. »Was ist los?«
»Wer bist du?«, fragt Mrs. MacGiver mit einem unvermuteten Blitzen in den Augen. »Bist du das, Marshall MacGiver?«
»Wer ist Lucy?«, wiederholt Amanda.
»Das weißt du doch.«
»Nein, weiß ich nicht.«
Die alte Mrs. MacGiver winkt Ben mit geradezu mädchenhafter Anmut zu.
»Wer ist Lucy?«, wiederholt Amanda zum dritten Mal und betont jedes Wort wie einen eigenen Satz, während Ben langsam die Treppe herunterkommt und hinter ihr stehen bleibt.
Mrs. MacGiver seufzt kokett. »Aber Marshall MacGiver, du weißt doch, dass du nicht herkommen sollst. Was werden meine Eltern sagen, wenn sie erfahren, dass du hier herumschleichst?«
»Mrs. MacGiver …«
»Das ist sehr unartig.«
»Wer ist Lucy, Mrs. MacGiver?«
»Lucy?« Mrs. MacGiver sieht sie verwirrt an. Tränen fließen aus ihren bereits feuchten Augen. »Du meinst bestimmt Sally.«
»Mrs. MacGiver …«
»Du bist nicht Sally.« Mrs. MacGiver beginnt sich unbeholfen zu drehen wie ein auslaufender Kreisel kurz vorm Umkippen. »Was habt ihr mit meiner Enkelin gemacht? Wo ist sie?«
»Mrs. MacGiver, beruhigen Sie sich doch …«
Mrs. MacGiver schwingt Richtung Haustür. »Ich will jetzt nach Hause. Sofort.« Sie rafft den Saum ihres Morgenmantels über ihre roten Gummistiefel, reißt die Tür auf und hastet über die Straße. Amanda und Ben, eingewickelt in eine rosafarbene Decke respektive ein weißes Handtuch, sehen hilflos zu, wie die alte Frau ihre Haustür öffnet und wieder zuknallt, sodass sich von einer Fensterbank im ersten Stock ein Klumpen Schnee löst und wie ein Ausrufezeichen hinter ihr auf dem Boden landet.
32
»Wohin gehst du?«, fragt Ben und stapft ihr durch den Schnee hinterher.
Amanda marschiert den Weg zum Nebenhaus hinauf und klingelt drei Mal. »Es muss doch in dieser Straße irgendjemanden geben, der nicht bekloppt ist und schon hier gelebt hat, als ich klein war. Vielleicht kann er uns irgendwas
Weitere Kostenlose Bücher