Tanz, Pueppchen, Tanz
Sie muss Hayley Mallins treffen, alias Hayley Walsh alias Lucy alias …
Wer zum Teufel ist die Frau?
»Mit Ihrem Wagen ist alles in Ordnung und mit Ihrem Rücken auch«, erklärt sie dem Mann ungerührt.
»Ach wirklich? Sind Sie Ärztin?«
»Nein, ich bin Anwältin. Wir sind beide Anwälte. Wenn Sie also an eine Schadensersatzklage denken, und das Gefühl kriege ich hier langsam, sollten Sie sich das noch einmal gut überlegen.«
»Soll das eine Drohung sein?«
»Amanda …«
»Ich habe keine Zeit für diesen Mist, Ben. Wenn du hier bleiben und mit diesem Arsch diskutieren willst, bitte sehr. Ich bin weg.«
»Sie sind ein Fall für die Klapse, Fräulein.«
»Ach ja? Da sollten Sie mal den Rest meiner Familie kennen lernen.«
»Amanda, nun beruhige dich doch. Ich rufe die Polizei. Sie werden in ein paar Minuten hier sein.«
»Ich habe aber nicht ein paar Minuten Zeit.« Sie rennt bereits die Straße hinunter.
»Amanda …«
»Du weißt, wo du mich findest«, ruft sie, ohne ihre Schritte zu verlangsamen.
Als der Fahrstuhl im 24. Stockwerk des Four Seasons Hotels anhält, schießt Amanda heraus, und nur Bens imaginäre Hand auf ihrer Schulter bremst sie ein wenig. Man fängt mehr Fliegen mit einem Löffel Honig als mit einem Fass Essig, hört sie ihn sagen.
Sie bleibt stehen und atmet einmal und dann noch einmal tief durch. Sie könnten noch schlafen. »Okay, hör auf Ben. Immer schön langsam. Ganz ruhig.« Sie schreitet forsch den Flur hinunter, atmet erneut tief ein und klopft dann leise an die Tür von Suite 2416. Niemand antwortet. Nach einer Weile klopft Amanda erneut, diesmal ein wenig drängender.
Es ist immer noch früh, erinnert sie sich. Sie könnten noch schlafen. Sie sollte ihnen einen Moment Zeit zum Aufwachen lassen, Zeit zu begreifen, dass jemand an der Tür ist.
»Los, komm«, flüstert sie, während ihr sanftes Klopfen lauter wird und alle höfliche Zurückhaltung verliert. »Los. Ich hab nicht den ganzen Tag Zeit.«
Keine Antwort.
»Hayley«, ruft Amanda. »Hayley, ich bin’s. Amanda Travis. Machen Sie auf.« Sie tritt mit dem Fuß gegen die Tür.
Immer noch keine Reaktion.
»Ich gehe nicht, bevor ich nicht mit Ihnen gesprochen habe.« Amanda presst ihr Ohr an die Tür, um auch den winzigsten Mucks zu erlauschen. Aber nach mehreren Minuten muss sie sich der Einsicht stellen, dass niemand da ist. Ist es möglich, dass die trauernde Familie frühstückt? Und wenn ja, wo?
Amanda rennt zurück zu den Aufzügen und hält den Knopf gedrückt, bis endlich ein Fahrstuhl eintrifft. Bevor sich die Tür ganz geöffnet hat, drängt sie hinein und stolpert in die Arme von zwei Männern, die in der Mitte der Kabine stehen. Normalerweise hätte sie einen leicht anzüglichen Witz gemacht und den Lift mit mindestens einer Einladung zum Frühstück wieder verlassen, aber heute Morgen ist alles anders als normal. »Verzeihung«, erklärt sie den beiden Männern schlicht, ohne sie richtig anzusehen, und drückt auf den Knopf für das Studio-Café in der ersten Etage.
Das Studio-Café ist ein langer schmaler Raum mit zahlreichen Fenstern mit Blick auf die Läden in der modischen Yorkville Avenue. Das Mobiliar ist ebenso wie die Kunst an den Wänden modern, und überall im Raum sind bunte Glasarbeiten ausgestellt. Etwa ein Dutzend Gäste sitzen bereits an den Tischen, lesen die Zeitung und genießen ihr Frühstück. Der Essensduft erinnert Amanda daran, dass sie noch nichts gegessen hat.
»Guten Morgen, Miss.« Der Chefkellner nimmt mehrere große Speisekarten zur Hand. »Erwarten Sie noch Gesellschaft zum Frühstück?«
»Eigentlich suche ich nur jemanden.« Amandas Blick huscht von einem Ende des Cafés zum anderen. »Eine Frau und zwei Kinder. Ein Junge, etwa zehn Jahre alt, und ein Mädchen, vielleicht dreizehn.«
»Sieht so aus, als wären Sie als Erste hier«, stellt der Chefkellner fest. »Ich kann Ihnen ein Tisch zuteilen, wenn Sie wollen.«
»Nein, schon gut. Ich gucke erst unten.«
»Gewiss«, sagt er, als ob dafür seine Erlaubnis erforderlich wäre.
Amanda nimmt die Rolltreppe vom ersten Stock in die Lobby, wo sich direkt am Fuß der Rolltreppe ein weiteres Restaurant befindet. Aber ein rascher Blick offenbart, dass Hayley Mallins und ihre Kinder auch hier nicht zu finden sind. »Himmel, sag bloß nicht, dass sie mit ihnen zu McDonald’s gegangen ist«, flüstert Amanda in ihren Mantelkragen. Sie ist auf der Bloor Street eben an einem vorbeigekommen. Ist es möglich, dass sie
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