Tanz, Pueppchen, Tanz
verschwunden ist.
4
»Schwören Sie die Wahrheit zu sagen, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit?«, deklamiert der Gerichtsschreiber ernst, als Derek Clemens seine linke Hand auf die Bibel legt und die rechte erhebt.
»Ich schwöre.«
Während er seinen Namen angibt und buchstabiert und dem Gericht seine Adresse nennt, mustert Amanda ihren Mandanten. Obwohl er auf ihre Anweisung ein sauberes weißes Hemd und eine gebügelte schwarze Hose trägt, wirkt seine Erscheinung irgendwie verlottert. Der offene Kragen schmiegt sich zu lässig um seinen Hals; sein Wildledergürtel ist zerkratzt und ausgefranst, die langen blonden Haare, in der Mitte gescheitelt und zu einem Pferdeschwanz gebunden, sehen strähnig und ungewaschen aus.
(»Ich habe sie heute Morgen gewaschen«, hat er ihr gereizt versichert.)
Amanda erhebt sich und knöpft ihre schwarze Jacke auf, dieselbe Jacke, die sie gestern getragen hat, genau wie denselben Rock und dieselben schwarzen Schuhe, die noch immer kneifen. Nur ihre weiße Bluse ist eine andere, allerdings ein Duplikat derjenigen, die sie gestern getragen hat. Sie geht die grundsätzlichen Tatsachen der Beziehung des Angeklagten zu Caroline Fletcher durch, das frühere Wohnarrangement, die häufigen Streitereien, der Hang zu heftigen Auseinandersetzungen und anschließender Versöhnung.
»Ich schlage vor, Sie erzählen uns am besten, was am Vormittag des 16. August geschehen ist, so wie Sie es erlebt haben«, sagt sie und lässt den Blick über die Reihe der Geschworenen schweifen, um sicherzugehen, dass alle mit der gebotenen Aufmerksamkeit bei der Sache sind. Dankbar stellt sie fest, dass alle die Augen offen und den Blick auf den Angeklagten gerichtet haben. Noch droht niemand einzunicken.
Natürlich haben sie wahrscheinlich alle gut geschlafen, denkt sie neidisch und erinnert sich an die frustrierenden Stunden zwischen Mitternacht und sechs Uhr morgens, in denen sie sich schlaflos im Bett hin und her gewälzt und alles Kanadische verflucht hat. Wie konnte Ben es wagen, sie nach all den Jahren anzurufen. Wie konnte er solche unverschämten Forderungen stellen. Wie konnte er es wagen, sie Püppchen zu nennen.
Sie war niemandes Püppchen mehr.
Du musst so schnell wie möglich nach Hause kommen.
Das geht nicht.
Ich stecke mitten in einem wichtigen Prozess.
»Ich meine, ich arbeite nachts«, sagt Derek Clemens, und Amanda fragt sich, wie viel von seiner Aussage sie schon verpasst hat. »Und ich finde, es ist nicht zu viel verlangt, dass sie wenigstens dafür sorgt, dass Milch im Haus ist, damit ich eine Schale Cornflakes essen kann, wenn ich morgens nach Hause komme.«
»Sie hatten also die ganze Nacht gearbeitet und waren müde und hungrig?«
»Ich arbeite von elf Uhr abends bis sieben Uhr morgens …«
Ungefähr die Zeit, die sie im Bett wach gelegen hat, denkt Amanda und nickt mit aufrichtigem Mitgefühl.
»… also, ja, ich war müde und hungrig. Die Wohnung sieht aus wie ein Schweinestall. Und sie macht sich zum Ausgehen fertig. Sprüht sich mit Parfüm ein. Nicht mal ein ›Hallo, wie geht’s?‹ Ich gehe also in die Küche und schütte mir Special K in eine Schale, obwohl ich das Zeug eigentlich nicht besonders mag, aber was anderes haben wir nicht, weil Caroline dauernd irgendeine Diät macht. Und wir haben keine Milch mehr. Ich meine, was für eine Mutter ist sie, wenn sie nicht mal dafür sorgt, dass Milch für das Baby im Haus ist?«
Sie ist deine Mutter.
Sag das ihr.
»Und das hat Sie wütend gemacht?«, fragt Amanda und schüttelt die zudringlichen Stimmen mit einer Kopfbewegung ab.
»Das hat mich verdammt noch mal sauer gemacht.«
»Was haben Sie getan?«
»Ich hab ihr gesagt, dass sie, wenn sie mir schon den ganzen Tag das Baby aufhalst, wenigstens Milch kaufen könnte, bevor sie zur Arbeit geht. Und sie sagt, sie hätte keine Zeit. Ich sage, was soll das heißen, du hast keine Zeit? Es ist noch nicht mal acht, und der Salon macht erst in einer Stunde auf. Sie sagt, sie will ein bisschen früher da sein, weil Jessica ihr versprochen hat, ihr die Haare zu schneiden, bevor die anderen kommen. Dann wacht Tiffany auf und fängt an zu schreien, und ich bin echt todmüde, Mann, ich will einfach schlafen. Also sage ich ihr, dass sie das Baby mitnehmen soll. Sie sagt, kommt nicht in Frage. Und dann versucht sie, mich aus dem Weg zu schubsen, weil ich vor der Tür stehe. Also hab ich ihren Arm gepackt, und dann hat sie mir eine Ohrfeige verpasst.«
» Sie hat
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