Tanz um Mitternacht
Von jetzt an würde er sie nicht mehr bedrängen. Sobald er sie wohlbehalten nach England gebracht hatte, würde er ihr helfen, die Heimreise in die Staaten zu arrangieren. Wenn sie das wirklich wollte...
Im Morgengrauen brachen sie auf. Zu Caits Leidwesen folgten sie demselben Weg, der sie bergauf geführt hatte. Zwei Tage lang graute ihr vor der Hängebrücke. Immer wieder sagte sie sich, da sie schon einmal darüber gegangen war, würde sie’s auch ein zweites Mal schaffen. Doch damit konnte sie ihre Angst nicht bezwingen. Still und in sich gekehrt, stieg sie den schmalen Pfad hinab.
Rand befand sich in einer ähnlichen trüben Stimmung. Wenn er auch in Caits Nähe blieb, sprach er kaum mit ihr. Nachts lagen sie nebeneinander, im Abstand weniger Schritte, und versuchten erfolglos einzuschlafen.
Natürlich spürte sie, wie sehr ihn das Geständnis ihrer Liebe überraschte. Hatte er ihre Gefühle wirklich nicht bemerkt? Oder wollte er die Wahrheit gar nicht wissen, und die Erkenntnis, dass sie ihn bis zu seinem Treuebruch geliebt hatte, jagte ihm neue Angst ein? Wenn das zutraf, würde er sie vielleicht in Ruhe lassen und möglichst bald nach England fahren, noch bevor sie mit ihrem Vater die Reise antrat. Dieser Gedanke müsste sie trösten.
Stattdessen glich die Verzweiflung einer offenen Wunde in ihrer Brust. Mittlerweile war ihr klar geworden, wie gern sie ihrem Mann wieder vertrauen würde. Sie hatte sogar geglaubt, sie könnten noch einmal von vorn anfangen. Jetzt wusste sie nicht mehr, was sie denken sollte.
Sie zog den Riemen ihres kleinen Ranzens etwas höher über die Schulter hinauf. Da der Abstieg nicht so mühselig war wie der Aufstieg, kamen sie schneller voran. Am Nachmittag des zweiten Tages erreichten sie die Hängebrücke. Es nieselte, und an den Stiefelsohlen klebte Schlamm.
»Auf der nassen Brücke kann man leicht ausrutschen«, warnte Max von Schnell.
Während der Nacht hatte es weiter oben am Pico de Maligno geregnet, und der Sturzbach in der Schlucht war an-
geschwollen. Da er tief unten dahinrauschte, spielte es keine Rolle. Aber Cait sah die schäumende Gischt gegen die Felsen schlagen, und der Anblick erschien ihr viel unheimlicher als beim ersten Mal.
Zuerst ging der Deutsche hinüber, das Halteseil fest im Griff, mit sicheren Schritten, und erweckte den Eindruck, es gäbe keinen Grund zur Besorgnis. Talmadge folgte ihm, dann Maruba und die Frauen. Zitternd stand Cait am Rand der Schlucht. Ihr Vater und Geoffrey gingen zu ihr.
»Alles in Ordnung?«, fragte Geoffrey.
»Natürlich«, erwiderte sie und lächelte etwas zu fröhlich. »Das erste Mal habe ich’s doch auch geschafft, oder?«
Der Professor drückte ihre Hand. »Tapferes Mädchen!«
»Gehen Sie jetzt hinüber, Dr. Harmon«, schlug Geoffrey vor. »Inzwischen bleibe ich bei Cait.« Ihr Vater nickte und betrat die Brücke. Nicht so sicher wie die anderen und viel langsamer wankte er hinüber, kam aber wohlbehalten auf der anderen Seite an. Nun machte sich Geoffrey auf den Weg. »Drüben warte ich auf dich, Cait. Wie zuvor.« Aufmunternd grinste er sie an und überquerte problemlos die Schlucht.
Bevor Cait an die Reihe kam, wandte sie sich zu Rand, der hinter ihr stand.
»Heute weht nur ein schwacher Wind«, erklärte er. »Also musst du dich nicht fürchten.« Beunruhigt musterte er ihr blasses Gesicht. »Verhalte dich genauso wie beim ersten Mal. Setz einfach nur einen Fuß vor den anderen und schau nicht hinunter.«
»Gehst du hinter mir hinüber?«
Besänftigend lächelte er ihr zu. »Nein, Percy wird dir folgen. Ich bleibe lieber hier, bis alle drüben gelandet sind.«
»Ja - gewiss...« Nur zu gut erinnerte sie sich an die Schwierigkeiten, die ihn beim letzten Mal behindert hatten.
Sie holte tief Luft, betrat die Brücke und hielt sich an Rands Anweisungen. Diesmal fiel es ihr viel leichter, das andere Ende zu erreichen.
Rand schickte die Gepäckträger hinüber. Schließlich standen nur mehr zwei Eingeborene und Sir Monty neben dem Duke. Der Forschungsreisende rief ihm etwas zu, das der Lärm des rauschenden Wassers teilweise verschluckte, bedeutete ihm, hinüberzugehen, und eilte mit den beiden Trägern den Weg zurück, den sie gekommen waren.
Ohne mit irgendwelchen Hindernissen zu kämpfen, gelangte Rand auf die andere Seite der Schlucht, und Cait seufzte erleichtert. »Wenn ich Walpole richtig verstanden habe, ist sein Tagebuch aus dem Ranzen gefallen«, berichtete er. »Er glaubt, das müsste passiert
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