Tanz unter Sternen
Liste nach Namen.
Eine Dame reichte ihm ein ausgefülltes Telegrammformular. Er gab es in eine runde Dose, steckte sie in eine Öffnung, und mit einem Zischen schickte er sie fort. Also gab es auf dem Schiff ein Rohrpostsystem! In Berlin schickte man so Telegramme von einem Stadtbezirk in den anderen, die Rohrpostämter hatten ihn mit ihrer pneumatischen Depeschenbeförderung auch in der Heimat begeistert.
Samuel stellte sich neben einen Herrn mit buschigem Bart und tat so, als gehöre er dazu. In seinem Rücken redete jemand Deutsch. Es ging um das Moody Institute in Amerika. Da fuhren sie doch hin! Samuel sah über die Schulter.
Da war Mama – und ein Mann. Sie hatte sich bei ihm eingehakt, und sie schritten auf die großen Glastüren zu. »So hast du sie überzeugt, uns einzuladen?«, fragte sie.
Der Mann sagte: »Ich habe Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, nur um dich zu sehen.«
Mutters Augen leuchteten.
Er kannte den Mann. Der Kerl hatte ihm in Berlin erklärt, wie man die Stromleitungen reparierte, und er hatte mit Mutter gesprochen, während er, Samuel, die Pferde gestreichelt hatte.
Mutter und ihn Seite an Seite zu sehen, tat ihm weh. Papa gehörte dahin, nicht der fremde Mann. Wie konnte sie mit dem durch die Glastüren gehen, ihn anlächeln und seinen Arm halten?
Samuel überlegte, ihnen nachzulaufen und sie anzuschreien, den Mann loszulassen. Er war reich, und offenbar mochte er Mutter. Sie brauchte Vater nicht mehr. Der reiche Mann konnte sie versorgen. Samuel fühlte sich, als würde ihm die Brust zerreißen. Er bekam keine Luft mehr.
Und ich?, dachte er. Bin ich euch egal? Er war nicht immer gehor sam gewesen, gestern zum Beispiel hatte er die Bibliothek verlassen, obwohl er versprochen hatte, dort zu bleiben. Manchmal hatte er böse Dinge zur Mutter gesagt. Und er hatte mit Absicht für die Reise seine Fibel nicht eingepackt, obwohl die Anweisung seiner Eltern klar gewesen war. Jetzt bereute er all das bitterlich. Er war schuld daran, dass es Mutter bei ihnen in der Familie nicht mehr gefiel.
Samuel warf sich herum und rannte los. Er stieß gegen gebauschte Kleider, hastete die Treppe hinauf. Man stellte sich ihm in den Weg, Spazierstöcke schlugen nach ihm, von überallher schimpften die Passagiere über ihn. Er war blind vor Tränen, stolperte, rappelte sich wieder auf. Das Luftschiff brannte, es fiel aus dem Himmel wie ein Feuerballon.
Sie war nicht in der Kabine. Bleib ruhig, sagte er sich, sie hat dir heute Nacht gesagt, dass sie dich liebt. Vertrau ihr! Matheus setzte sich aufs Bett und wartete. Nach einer Weile stand er auf und nahm die Papierrose vom Schrank. Dieses kleine Kunstwerk hatte der hohlwangige Kerl geschaffen, der Gartenzwergverkäufer? So konnte man sich in Menschen täuschen.
Was macht sie nur?, dachte er. Es schmerzte ihn, dass Cäcilie verschwunden war. Die Stunde war längst um. War der Journalist gekommen und hatte sie gefragt, ob sie mit ihm spazieren ging? Dann hätte sie ihnen wenigstens Bescheid sagen können, sie wusste doch, dass er oben an Deck auf sie wartete.
Mit jeder Minute wurde seine Angst größer.
Die Diebin fiel ihm ein, Nele. Wäre es nicht seine Pflicht, sie aufzusuchen? Durch ihren Vater hatte sie ein völlig falsches Bild vom christlichen Glauben. Jemand musste ihr von Gottes Liebe erzählen. Außerdem verdiente sie eine Entschuldigung.
Matheus stellte sich vor den Spiegel, zog den Kamm aus der Hosentasche und versuchte, seinen wüsten Haarschopf zu bändigen. Sie soll sehen, dachte er, dass nicht alle Christen verlotterte, unzuverlässige Trinker sind. Nach den fürchterlichen Erfahrungen ihres Elternhauses, die sie angedeutet hat, soll sie einmal einen guten Eindruck gewinnen.
Vom Glauben? Oder von dir?, spottete eine Stimme in ihm.
Matheus suchte den Purser der zweiten Klasse auf, dessen Büro sich im Oberdeck befand. »Ist sie alleinstehend?«, fragte der Zahlmeister. Die Glühlampen, die den Tresen beleuchteten, legten einen bläulichen Schimmer auf sein Gesicht.
»Ich denke schon.« Wie peinlich, nach einer Frau zu fragen, von der man nur den Vornamen kannte. Der Purser musste glauben, dass er ihr nachstellte wie ein junger Heißsporn.
»Dann weiß ich, wo ich nachsehen muss.« Er zog eine Liste aus seinem Schubfach hervor. »Wir haben die alleinstehenden Damen am hinteren Ende des Schiffs einquartiert. Wo ist sie … Nele … Nele …«
»Wieso im Heck?«
»Das ist weit weg von den alleinstehenden Männern – die haben ihre
Weitere Kostenlose Bücher