Tanz unter Sternen
flüsterte: »Unsere Freunde vom Inlandsgeheimdienst haben erst kürzlich einen Friseur in London enttarnt, der für die Deutschen spionierte, Gustav Ernst, haben Sie die Geschichte vergessen? Deutsche Schläfer bereiten sich längst darauf vor, bei uns Brücken in die Luft zu sprengen. Jede Woche versucht einer, die Baupläne unserer U-Boote ins Deutsche Reich zu schmuggeln. Die Deutschen hören seit Monaten den Funkverkehr der britischen Marine ab.«
Der Fotograf machte hektische Handzeichen. »Da kommt jemand«, würgte er heraus.
Lyman ließ ihn los.
Ein Pärchen schlenderte vorbei. »Das wäre so schön, Schatz, wenn wir einen sehen könnten«, hauchte sie. »Stell dir das mal vor, ein ganzer Berg aus Eis. Sie müssen majestätisch sein. Es gibt sie doch, Eisberge, oder? Nicht diese kleinen Schollen da hinten, ich meine richtige Berge.«
»Morgen bei Tageslicht kannst du sie viel besser sehen. Lass uns reingehen.« Ihr Partner zog sie durch die Tür.
Kaum waren sie fort, krächzte der Fotograf: »Tut mir leid. Ich hab’s nicht so gemeint.« Er rieb sich die Kehle. »Ich dachte nur, diese ganze Hysterie …«
»Wenn Ihnen in ein paar Monaten die Kugeln um die Ohren pfeifen, werden Sie es nicht mehr Hysterie nennen. Wollen Sie auf der Verliererseite stehen und mit Blei in der Brust irgendwo in einem Schützengraben verrecken? Wir müssen diesen Krieg gewinnen. Das schafft man durch Informationen und durch den Einfluss aufs Volk. Und Sie sind da vorne dran, ist Ihnen das nicht klar? Radio, Zeitungen, Nachrichten im Kino, so wird in Zukunft Krieg geführt.«
Vom Ausguck her schlug eine Glocke an, einmal, zweimal, dreimal. Drei Glockenschläge, das bedeutete Gefahr. Lyman beugte sich zwischen den Rettungsbooten über den Rand des Schiffs.
Zuerst sah er noch nichts. Dann beobachtete er mit Entsetzen, wie sich vor ihnen eine riesige weiße Masse aus der Nacht schälte, ein Gigant aus Eis, beinahe so hoch wie die Titanic. Die Natur stellte sich der von Menschen gebauten Maschine in den Weg. In ihrer Pracht und Kraft stand sie da, bereit, das Schiff auflaufen zu lassen.
Die Motoren surrten lauter, das Krähennest hatte zur Brücke hinuntertelephoniert, man versuchte, dem Eisberg auszuweichen. Zoll um Zoll drehte der Bug der Titanic ab, während sie auf den Eisberg zupflügte.
Niemals war das zu schaffen, niemals. Oder doch? Diese wunderbaren Halunken, sie schafften es, sie brachten die Titanic –
Ein Ruck ging durch das Schiff. Eissplitter spritzten an Deck und schlitterten über den Boden. Das Beben währte wenige Augenbli cke, dann hörte es auf, und eine geisterhafte Stille kehrte ein, eine Stille, wie sie seit Beginn der Reise nicht mehr dagewesen war. Die Maschinen waren verstummt. Lautlos glitt das Schiff über das Meer.
»Shit« , sagte Lyman.
Der Fotograf fragte: »Was war das?«
»Das wird ein Desaster für die Public Relations.« Er tippte dem Fotografen auf die Brust. »Sie gehen in New York als Erster an Land und bringen Ihre Fotos an den Mann. Die Menschen sollen die Titanic unversehrt sehen, wir machen das Schiff zum Helden, der siegreich aus dem Kampf heimkehrt, verstanden? Das kleine Unglück muss den Mythos noch stärker machen.«
»In Ordnung«, sagte der Fotograf, packte seine Kamera aus und richtete sie auf die vorüberziehende Eiswand. Das Eis glitzerte im Licht der Schiffslampen wie Diamantenstaub. Der Fotograf drückte ab.
»Haben Sie mir zugehört?«
»Hab ich.« Der Eisberg verschwand in der Dunkelheit hinter dem Schiff.
Matheus erwachte. Er hob den Kopf. Durch das dicke viereckige Glasfenster drang kein Licht in die Kabine, es war noch Nacht. Was hatte ihn geweckt? Vielleicht kann man Telegramme spüren, dachte er im Halbschlaf, die Funker arbeiten ja rund um die Uhr. Diese Erfindung war noch viel zu wenig erforscht, womöglich waren die Funkwellen schädlich für den Menschen.
Der seltsame Draht dort oben zwischen den Schornsteinen: So sendeten sie Nachrichten durch den Äther, sogar durch die Wände von Gebäuden. Die Luft, die er gerade atmete, bestand aus elektrisch geschriebenen Worten. Mit den Telegraphen schleuderten sie Worte über weite Entfernungen, in Sekundenschnelle. Die Botschaft sprang von einem Schiff zum nächsten, jeder Funker sandte sie weiter übers Meer hin zum nächsten, der sie ebenfalls weiterleitete, bis sie auf Land traf.
Vor vierzig Jahren hatte man, um dasselbe zu erreichen, ein Kabel am Boden des Ozeans entlanggelegt, bis nach Amerika. Das war
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