Tapas zum Abendbrot
Mexiko zu ziehen: 15272, 42 und 0.
15272 Menschen wurden 2010 in dem Land nach offiziellen Angaben ermordet. Das sind 42 pro Tag. Und wenn Tina dort durch die Stadt geht, dann ist sie 0 entspannt. »Polizei und Militär sind überall, ständig hört man von SchieÃereien«, sagt sie. »âºWir sehen uns morgenâ¹ hat da eine ganz andere Bedeutung.«
Und doch gibt es einen Grund, warum sie vielleicht dennoch bald ihre Sachen packen und wieder in den Flieger steigen wird. Dieser Grund hat einen schwarzen Wuschelkopf, einen Fünf-Tage-Bart und einen mexikanischen Pass.
Seit sie den Wuschelkopf kennt, stellt sich Tina eine Frage, auf die sie einfach keine richtige Antwort findet: Wie viel darf man für die Liebe aufgeben?
Kennengelernt haben Cesar und Tina sich vor sechs Jahren. Offiziell sind sie damals in Guatemala, aber eigentlich stimmt das nicht. Eigentlich befinden sich Cesar und Tina in der Schwerelosigkeit, in einer Sphäre, die nach Abenteuer, nach Freiheit, nach Austoben riecht.
Tina ist 19 Jahre alt, gleich nach dem Abi hat sie gemeinsam mit ihrem Bruder den groÃen Wanderrucksack gepackt und ist nach Mittelamerika gereist. Sie lassen sich treiben, schlafen in Hostels. Tina lernt viele Leute kennen, fast jede Woche einen groÃartigen Mann und irgendwann den groÃartigsten: Cesar. Sie mag seine Verrücktheit, seine Leidenschaftlichkeit, wie er immer mit vollem Körpereinsatz spricht, dass er gern Kinder um sich hat. Und er mag ihre Arbeit im Zirkus, ihre Unbeschwertheit. AuÃerdem findet er sie »maravillosa«, einfach wunderschön. Zehn Tage lang reisen sie gemeinsam umher, dann verabreden sie, dass sie sich in ein paar Monaten in Ecuador wiedersehen wollen. Die beiden arbeiten dort bei einem Zirkusprojekt für Kinder, sie fühlen sich losgelöst von jeder Realität. Tina kennt Cesars eigentliches Leben nicht, sie hat keine Vorstellung von seiner Heimat, seinen Freunden, seinem Alltag. Und Cesar war noch nie in Deutschland, nie in Europa. Es gibt nur sie und ihn, im Hier und Jetzt. Es gibt keine Vergangenheit, keine Zukunft, keine Routine, keine Probleme â nur ein Datum, das unausweichlich näher rückt: Tinas Abflug nach Deutschland.
Als sie sich am Flughafen von Quito verabschieden, haben sie keinen Plan für die Zukunft, keine Ahnung, ob sie sich wiedersehen werden. Pläne, Sorgen, die gibt es in ihrer Sphäre einfach nicht. Sie sagen dennoch nicht »Leb wohl«. Sie sagen »¡Hasta pronto!«, »Bis bald!«
»Bis bald«, das müssen sie in den ersten Jahren ihrer Beziehung oft sagen. Meist ohne zu wissen, ob dieses »bald« in drei Monaten oder einem Jahr sein würde. Mal organisiert Tina sich ein Praktikum in Mexiko, mal lebt Cesar einige Monate bei ihr in Deutschland, mal treffen sie sich in einem dritten Land. Beide fühlen sich als Weltenbummler. Aber beide wissen auch, dass es so nicht ewig weitergehen kann. Denn: »Das alles ist scheiÃ-anstrengend«, sagt Tina. Heute sind sie und Cesar Mitte 20, und sie müssen nun endlich die Frage beantworten, die sie von Anfang an beschäftigt hat: Wo sollen wir leben?
Normalerweise stellen sich junge Verliebte andere Fragen. Was sollen wir heute Abend im Kino sehen? Oder: Wohin sollen wir in den Urlaub fahren? Bei Paaren aus verschiedenen Ländern hingegen kommt schnell das Existenzielle auf den Tisch. Gerade hat man sich etwas zu tief in die Augen geblickt, da steht meist schon der Abflug an â und damit viele grundlegende Fragen: Wie verliebt bin ich eigentlich? Was bin ich bereit, für diese Liebe aufzugeben? Bin ich bereit, meinen Job zu kündigen, meine Familie zu verlassen, meine Karriere zu beenden und umzuziehen? Kann ich in einem Land leben, in dem die Menschen eine andere Religion haben oder rohen Fisch essen, oder in dem in einem Jahr 15272 Menschen getötet werden? Und möchte ich, dass jemand anderes sein Leben für mich auf den Kopf stellt und zu mir zieht?
Gut, dass der liebe Gott an den Anfang der Liebe den Hormonschub gesetzt hat. Ohne die gehörige Ladung Dopamin, die einen an den Rand der Unzurechnungsfähigkeit treibt, gäbe es viele internationale Paare wohl gar nicht. Denn wer sich â ganz sachlich und rational â einmal mit der Frage beschäftigt, ob man für eine Beziehung wirklich sein ganzes Leben umkrempeln sollte, der würde sich vielleicht überlegen, dass Melanie oder Martin von
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