Tarean 01 - Sohn des Fluchbringers
notdürftig an den Straßenrand gezerrt, um freie Bahn für die Bahrenträger und die Karren zu schaffen, welche die verwundeten Dorfbewohner zu ihren Familien und ins Haus des Heilers trugen, während die Gefallenen in den Dreigöttertempel gebracht wurden, damit man ihnen dort die letzte Ehre erweisen konnte, bevor sie in einer ganzen Reihe frischer Gräber auf dem Friedhof bestattet werden würden. Der Totenacker, so wähnte Tarean, hatte in der letzten Nacht eine erschreckende Anzahl neuer Bewohner erhalten. Er hoffte, dass diese nicht genauso unruhig schliefen wie sein Vater.
Ihr Ziel war ein kleines Haus am Rand von Ortensruh, direkt an der Fuhrwerkstraße, die Tarean gestern noch zu Pferde herabgeprescht war – es fühlte sich an wie aus einem anderen Leben. »Warte hier, während ich hineingehe. Es muss nicht sein, dass man dich sieht« gebot ihm Wilfert. »Oder besser noch: Geh schon vor. Durch die Wiesen und dann im Schutze des Waldrands bis zum Steilhang unterhalb des Wallhorns. Versteck dich hinter einem der Findlinge, die den Taleingang säumen und warte dort auf mich. Ich werde dir mit dem Pferd über die Handelsstraße nachfolgen.«
»Ja, Wilfert.«
Der Junge huschte über die Straße und schlug sich in die Büsche an der Westseite des Hauses. Für einen Augenblick verharrte er dort im Gestrüpp hockend und beobachtete, wie der Ritter an die Tür pochte und ihm ein alter Mann öffnete, dessen Bein mit frischen weißen Verbänden umwickelt war – es war Deorn, der Veteran mit der Schwertwunde am Oberschenkel, dem sie gestern Abend beim Einritt in Ortensruh begegnet waren. Während Wilfert eintrat, wandte sich Tarean ab und rannte geduckt los. Aber Erschöpfung und der gesunde Menschenverstand ließen ihn schon bald seine Schritte verlangsamen, denn er fühlte sich nicht nur nach wie vor am ganzen Körper wie zerschlagen, er wollte auch auf keinen Fall riskieren, ob seiner Hast von einem übermüdeten Wachsoldaten für einen flüchtenden Wolfling gehalten zu werden. Das Letzte, was er jetzt gebrauchen konnte, war ein Pfeil im Rücken.
Den Waldrand und den sich darüber erhebenden Helvenkamm unmittelbar zu seiner Rechten und die vielleicht eine Meile weiter unten im Tal verlaufende Handelsstraße zu seiner Linken wanderte der Junge gen Südosten, dem Ausgang des Tals entgegen. Schon bald meldete sich sein Magen geräuschvoll zu Wort, und er wurde sich bewusst, dass er seit seinem eher kärglichen Mahl gestern am frühen Abend mit Iegi auf dem Wachturm am Wallhorn nichts mehr gegessen hatte. Hoffentlich brachte ihm Wilfert auch ein bisschen Proviant für die erste Etappe seiner Reise mit. Für einen kurzen bangen Moment fragte er sich, ob in der Gegend wohl immer noch die Gefahr eines Angriffs durch vereinzelte, herumstreunende Wolflinge bestand, doch obwohl er daraufhin seine Umgebung aufmerksam im Auge behielt, konnte er kein Anzeichen von Grawlspuren entdecken.
Die Sonne war bereits aufgegangen, und es versprach erneut ein heißer Tag zu werden, als er schließlich die Ansammlung Findlinge erreichte, die den Taleingang bildeten. Er suchte sich ein bequemes Plätzchen am Fuße eines der im Gras liegenden Felsbrocken, von dem aus er die Handelsstraße sowohl ins Tal hinauf als auch ins Kernland hinab überblicken konnte. Dann lehnte er den Rücken an den Stein und wartete. Die Strahlen der Sonne streichelten ihm übers Gesicht und über die Brust, und er spürte eine wohlige Wärme, die seinen ganzen Körper durchströmte. Und für einen Moment fühlte er sich von allen bösen Gedanken und allem Schmerz befreit und völlig im Frieden mit sich selbst, jetzt, da er eine Entscheidung getroffen hatte.
Er mochte eine knappe Stunde gewartet und dem Plätschern und Gurgeln des nahen Eilwassers gelauscht haben, als er sah, wie sich ein Reiter aus Richtung Ortensruh näherte. Es war Wilfert.
Der Ritter schien Tareans Entscheidung, Bergen zu verlassen, um sich dem größten Feind, den die Völker des Westens kannten, entgegenzustellen, bemerkenswert rasch akzeptiert zu haben. Er schien zudem darauf erpicht, dem Jungen jedwede Hilfe zuteil werden zu lassen, die in seiner Macht stand. So brachte er Tarean nicht nur neue Beinkleider, ein neues Hemd und sogar einen etwas zu weit sitzenden Lederharnisch, um seine vom Kampf um Ortensruh zerfetzten Kleider zu ersetzen, er überreichte ihm auch einen grauen Reisemantel und eine Tasche, die er mit haltbarer Wegzehrung für drei Tage gefüllt hatte. »Das sollte
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