Tarean 01 - Sohn des Fluchbringers
Bauwerks, das vor langer Zeit ein Wachturm oder etwas Ähnliches gewesen sein mochte. Und zu seiner Überraschung traf er hier Lanfert an, der inmitten der Ruine auf einem flachen Granitquader saß. Er hatte die Kapuze zurückgeschlagen und las in einer kleinen, in dunkelbraunes Leder gebundenen Fibel. Als er den Jungen nahen hörte, hob er den Kopf und blickte ihm entgegen. »Ah, Tarean, ich wünsche dir einen guten Morgen.«
Der Junge erwiderte den Gruß, dann fragte er: »Was macht Ihr hier oben?«
Lanfert klappte das Buch zu. »Ich lese im Buch der Offenbarungen, die vom Propheten Indric empfangen wurden, dem, so heißt es, von Indra die Gabe des Sehens verliehen wurde. Ich lese jeden Tag ein paar Zeilen in diesem Buch und das schon seit sechzehn Jahren.«
Langsam trat Tarean näher. »Jeden Tag ein paar Zeilen? Warum?«
Der Mönch lächelte ihn traurig an. »Um mich an jenen unheilvollen Tag zu erinnern, da die Worte in diesem Buch mich dazu veranlassten, deinen Vater auf eine Queste zu schicken, die unser aller Untergang einläuten sollte.«
»Was?!«, entfuhr es Tarean. Der Junge glaubte, seinen Ohren nicht trauen zu dürfen.
»Setz dich, Tarean aus Bergen, Sohn des Anreon von Agialon.« Bruder Lanfert deutete auf einen nahen Steinblock. »Wir haben einiges zu bereden.«
Mit klopfendem Herzen kam dieser der Aufforderung nach. »Woher wisst Ihr, wer ich bin?«
Der Mönch deutete auf den Griff Esdurials, der an Tareans Seite aus der Schwertscheide ragte. »Ich erkenne eine Klinge wieder, wenn ich sie einem Mann eigenhändig überreicht habe.«
Unwillkürlich wanderte die Hand des Jungen zum Knauf der Waffe. »Wie meint Ihr das?«
»Vor langer Zeit befand sich Esdurial in meiner Obhut. Und als der rechte Zeitpunkt gekommen war, gab ich die Klinge an deinen Vater weiter, denn es fand sich in jenen Tagen kein Größerer unter den Rittern des Kristalldrachenordens, und er brauchte eine besondere Waffe für den Weg, der vor ihm lag. Nach der Niederlage auf dem Drakenskal barg Wilfert, der treue Knappe deines Vaters, das Schwert, und wir brachten es gemeinsam nach Bergen, wo wir uns einigten, es sicher zu verwahren, um es eines Tages dem Erben Anreons, der in der Nacht geboren ward, da sein Vater starb, zu vermachen. Und wie ich sehe, hat Wilfert genau das getan.«
In Tareans Kopf rauschte es. All die Jahre hatte er in Unkenntnis der Vergangenheit gelebt, nicht wissend, was seinem Vater damals in der letzten Schlacht der freien Völker des Westens gegen das Bestienheer des Hexers Calvas widerfahren war. Und nun endlich schien er einen Mann getroffen zu haben, der ihm alle Fragen beantworten konnte, die ihm auf der Zunge lagen, seit er zu sprechen gelernt hatte. Und mehr noch: Im Gegensatz zu Wilfert, dessen Lippen gewollt oder erzwungen stets versiegelt gewesen waren, schien Lanfert geradezu erleichtert zu sein, sich die Last der Erinnerung von der Seele zu reden.
»Erzählt mir alles, was Ihr über meinen Vater wisst«, bat er den Mönch.
Dieser nickte und fing an. Und er erzählte Tarean, wie Anreon von Agialon dem Orden der Kristalldrachen beigetreten war, wie er sich in seinen Rängen einen Namen als tapferer und edler Krieger erworben hatte, wie er schließlich mit der schicksalhaften Suche nach dem Buch der Verbannung betraut worden war und wie das Buch nach seiner erfolgreichen Heimkehr letzten Endes zu seinem Fall geführt hatte. Dabei ergänzte er seine eigenen Erlebnisse mit den Dingen, die ihm Wilfert geschildert hatte, und auch seine Rolle als Gelehrter des Ordens und späterer Hüter des Buchs der Verbannung beschönigte er mit keinem Satz. »Wie du siehst, Tarean«, schloss er eine geraume Zeitspanne später, »lastet auf den Schultern deines Vater nur die Schuld, der Schlussstein im gewaltigen Gebäude aus Lug und Trug gewesen zu sein, das Calvas über unser aller Köpfe mit teuflischer Geduld und Kunstfertigkeit errichtet hatte. Der Baumeister indes, der diesen Schlussstein setzte, bin ich, denn ich versagte darin, die Falle zu entdecken, die der Hexer für uns ausgelegt hatte. Seit diesem Tage büße ich für mein Scheitern und gönne meinen Augen keine Freude mehr. Und wenn mich nun dein berechtigter Zorn trifft, mein Sohn, dann wird auch dies nur Teil meiner Buße sein.«
Der Junge vernahm die Worte, doch er wusste nicht, was er auf sie antworten sollte. Ihm war gleichzeitig zum Lachen und zum Weinen zumute, und er verspürte den Drang, aufzuspringen und den Mönch entweder zu umarmen
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