Tarean 02 - Erbe der Kristalldrachen
gewesen war, landete.
Raisils gefiederter Kopf zuckte in die Höhe. Als sie den Neuankömmling erblickte, stahl sich ein Lächeln auf ihre Lippen. »Oh, Iegi.« Sie erhob sich und stellte sich ihm gegenüber. »Mein geliebter Nistbruder.« In ihren Augen blitzte es spöttisch auf.
»Wage es nicht, in Raisils Namen zu mir zu sprechen«, fuhr Iegi den Hexer an.
»Aber es ist wahr«, drehte Calvas den Dolch im Herzen des jungen Vogelmenschen noch einmal um. »Dieses bedauernswerte Wesen, dessen Leib ich in Besitz genommen habe, liebt dich. Und wie hast du es ihr vergolten?«
»Schweig, du Monstrum!«, schrie der Taijirinprinz. »Ich bringe dich um!«
»Tatsächlich?« Raisil senkte den Kopf. Der schmachtende Blick, den sie ihm aus violett lodernden Augen zuwarf, fuhr Iegi gleich einer glühenden Klinge direkt ins Herz. »Könntest du mich töten, geliebter Nistbruder?« Der säuselnde Tonfall ihrer Stimme erinnerte ihn in seiner Falschheit an eine Giftschlange, die nur auf eine Gelegenheit wartete, ihrem Opfer die Zähne in die Haut zu schlagen.
Iegis Hand verkrampfte sich um den Griff Esdurials.
Ohne den Vogelmenschen aus den Augen zu lassen, ging Calvas wieder in die Knie. »Nun komm schon, Iegi, Prinz von Airianis. Ich sehe, dass du Esdurial trägst. Also nutze die Waffe. Oder bist du auch so schwach wie der letzte Junge, der es nicht vermochte, mich umzubringen, als ich ihm die Möglichkeit dazu bot?«
Langsam schob sich Raisils Hand mit dem Dolch wieder zu dem dritten Tau vor, das bereits fast zur Gänze durchtrennt war. »Entscheide dich, Vogelmensch. Lässt du deine Freunde dort unten sterben? Oder tötest du deine Nistschwester?«
Calvas setzte den Dolch an das Tau.
Da schrie Iegi gepeinigt auf, hob Esdurial über den Kopf und griff an.
Einen Herzschlag zu spät.
In einer atemberaubenden Kletteraktion hatten sich Tarean und Haffta, immer begleitet von einer aufgeregten Moosbeere, an der linken Wandung der Transportplattform nach oben gearbeitet. Sie hatten sich soeben über den oberen Rand gezogen und lagen nun keuchend und schwitzend auf den Streben der Brüstung, als das dritte Tau riss – und es war das auf ihrer Seite!
Moosbeere stieß ein helles Kreischen aus und huschte davon, um dem herabfallenden Tau auszuweichen.
»Festhalten!«, schrie Tarean mit sich überschlagender Stimme, während er sich mit beiden Händen an die Holzbalken klammerte, auf denen er lag.
Die Ecke sackte nach unten ab und beschrieb dabei einen knappen Halbkreis, sodass sie plötzlich an der unangenehm abschüssigen Kante einer ungleichmäßigen Raute hingen, die, vor der lotrechten Felswand leicht hin- und herschwingend, dreihundert Schritt über der Ebene von Nondur in der Luft baumelte.
Nicht hinabsehen! Nicht darüber nachdenken!, beschwor sich Tarean im Geiste und erreichte damit natürlich genau das Gegenteil. Die ganze Welt schien zu schwanken und sich zu drehen. Sein Herz raste, und sein Atem ging stoßweise. Er fühlte sich wie ein Kaninchen im Angesicht des aufgerissenen Wolfsrachens – nur dass der Rachen, der sich unter ihm geöffnet hatte, um ihn zu verschlingen, in schwindelerregender Tiefe lag.
Hinter ihm winselte Haffta, und das Geräusch brachte den Jungen wieder zur Besinnung. Die Vorstellung, dass einer der wilden, schier todesverachtenden Wolfskrieger genauso viel oder vielleicht sogar noch mehr Angst als er selbst vor irgendetwas haben konnte, verlieh ihm die Kraft, seine eigene Panik zurückzudrängen. »Haffta, alles in Ordnung bei dir?«
»Ich lebe noch. Das ist das einzig Gute – und eigentlich bin ich mir gar nicht sicher, wie gut das in unserer Lage wirklich ist.«
Über sich vernahmen sie den wilden Jagdschrei eines Vogelmenschen. »Immerhin wird Calvas keine Zeit haben, das vierte Tau zu durchschneiden«, bemerkte Tarean. »Hoffen wir, Iegi hält ihn auf, bis uns Auril retten kann.« Wenn uns Auril retten kann … Der Kampf auf dem Flugschiff der Piraten wurde nach wie vor mit unverminderter Heftigkeit geführt.
»Ich fürchte, dass die Natur Erfolg haben könnte, wo der Hexer versagt«, knurrte Haffta in seinem Rücken. »Diese Plattform war sicher nicht ohne Grund an vier Tauen aufgehängt. Nun muss ein Seil das Gewicht von all dem tragen.«
Bei dem Gedanken stellten sich Tareans Nackenhaare auf, und ihn schwindelte erneut. Darüber hatte er noch gar nicht nachgedacht. Sein Blick huschte zu dem letzten der vier dicken Haltetaue. Es war ihm, als dringe das leise Knarren
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