Tarean 02 - Erbe der Kristalldrachen
mochte, das abgebrochene Gespräch fortzusetzen. »Willst du mir jetzt verraten, worum es hier überhaupt geht?«, fragte er leise. »Wenn dich irgendetwas bedrückt, sag es mir. Ich bin dein Freund, das weißt du. Wenn du Rat oder Hilfe brauchst, so will ich dir beides geben. Und niemand muss es erfahren, wenn du das nicht möchtest.«
Er hielt sie weiterhin fest, und auch wenn es vielleicht nicht mehr nötig gewesen wäre, löste sich die Albin nicht von ihm, sondern genoss noch eine Weile den Halt, den ihr die kräftigen Arme des Vogelmenschenkriegers boten. Sie wünschte sich nur, er würde keinen Harnisch tragen.
»Ich danke dir, Iegi. Aber ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll«, gestand sie. »Es ist alles so … verworren.«
»Warum fängst du nicht vorne an?«, schlug der Vogelmensch vor.
Auril schnaubte freudlos. »Dann müsste ich vor meiner Geburt beginnen.«
»Oh.« Iegi schien einen Moment nachzudenken. »In dem Fall sollten wir uns setzen.«
Die Albin schmunzelte im Dunkeln. »In Ordnung.«
Sie traten auseinander und ließen sich im Gras am Fuße des Schiffsrumpfes nieder. Iegi breitete die Flügel aus, um sie vor der kühlen Brise zu schützen, die von Süden her über die Steppe strich. »Also dann …«, forderte er sie auf.
Auril richtete ihre Augen auf das nächtliche Tiefland und seufzte. »Nun gut«, sagte sie. »Hier ist meine Lebensgeschichte. Tarean habe ich einiges davon schon erzählt. Aber für dich dürfte das alles neu sein. Ich fange einfach von vorne an.« Sie warf Iegi einen mahnenden Seitenblick zu. »Ich werde das allerdings nur einmal erzählen, also unterbrich mich nicht.«
Iegi war klug genug, nichts darauf zu antworten.
Aurils Augen schweiften erneut in die Ferne. »Das Ganze fing im Grunde schon vor meiner Geburt an – das sagte ich bereits –, und zwar als meine Mutter meinen Vater kennenlernte. Er war zu dieser Zeit noch ein verhältnismäßig unwichtiger Mann am Hofe des Hochkönigs Jeorhel in der Albenstadt Fuencarral. Meine Mutter indes war eine Ritterin, soweit ich weiß. Wie sie zusammenfanden, vermag ich nicht zu sagen, doch kurz darauf erblickte ich das Licht der Welt. Meine Mutter aber maß ihrer Berufung mehr Gewicht bei als der Verpflichtung gegenüber ihrer Familie – und so wurde ich meinem Vater übergeben, der mich aufzog, während meine Mutter fortging. Sie sagte, es sei ihre Bestimmung.«
Die Albin schüttelte geistesabwesend den Kopf. »In jenen Tagen muss mein Vater seine Besessenheit entwickelt haben. Bestimmung, Schicksal, das Wirken der sogenannten Götter, der Alten Macht und ihrer Diener – all das wurde zu seinem Lebensinhalt. Mit zunehmendem Wissen stieg er in der Gunst Jeorhels auf, denn der schien nach Jahren des Krieges gegen Calvas nicht mehr weiterzuwissen und bereit zu sein, die Geschicke der Alben in die Hände von Vogelbeobachtern und Teeblattlesern zu legen – so zumindest kam es mir vor. Mein Vater aber, mit immer mehr Macht und Befugnissen ausgestattet, begann, das Schicksal nicht mehr nur zu erforschen, sondern andere zu Sklaven seiner Visionen zu machen. Sein ganzer Kampf gegen Calvas gründete sich auf den Glauben, es stehe irgendwo geschrieben, dass der Hexer fallen solle. Stattdessen fiel ein junger Krieger, der mir damals sehr wichtig war.«
Auril biss sich auf die Unterlippe. Der Tod ihres ersten Gefährten war mittlerweile Jahre her, doch in der Erinnerung schmerzte er noch immer. »Ich tat, was ich tun musste: Ich befreite mich von der ganzen Schicksalsschwere und wurde eine Frau, die nur für den Tag und für sich selbst lebte. Vier Jahre zog ich so durch die westlichen Reiche und traf dabei auf Bromm, auf Männer wie Ardo und schließlich auf Tarean. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich mich mit meinem Vater versöhnt, doch seinen Glauben an die Bestimmung eines Einzelnen oder an die Macht des Schicksals wollte ich nicht teilen.«
Sie schenkte Iegi, der ihr gebannt lauschte, einen leicht sarkastischen Blick. »Ich hätte mich wohl besser vom Sohn des Fluchbringers fernhalten sollen. Denn ich half nicht nur dabei, eine weitere Vision, die mein Vater dem Wasser des Sehens, unserem albischen Orakel, verdankte, Wahrheit werden zu lassen. Ich geriet auch in den Bann eines Jungen, der die Mächte des Schicksals anzuziehen scheint wie eine Laterne die Nachtfalter.« Die Albin hielt inne. Der Gedanke hatte einen unangenehmen Beigeschmack. Denn vielleicht waren auch sie alle nicht mehr als Nachtfalter, die von der Hitze
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