Tarean 02 - Erbe der Kristalldrachen
Tarean. Man sagt, das Wasser des Sehens könne dem ungeschulten Geist großen Schaden zufügen. Sie könnte dem Wahn verfallen. Aber ich weiß nicht, was ich dagegen unternehmen soll.«
Tarean blinzelte, und sein Blick irrte zurück zu dem kleinen Lagerfeuer. Die Äste waren beinahe heruntergebrannt, doch zwischen den schwarz verkohlten Stümpfen irrlichterte noch die Glut, ein unstetes Glimmen – wie das in Aurils Augen am heutigen Morgen. Sie könnte dem Wahn verfallen … Was hat sie gesehen? Er wandte sich erneut dem Bären zu. »Ich rede mit ihr«, versprach er. »Ich finde heraus, was sie gesehen und womit sie zu kämpfen hat.«
Dem bepelzten Hünen schien ein Stein vom Herzen zu fallen. »Danke. Ich hatte gehofft, dass du das sagen würdest.« Er kratzte sich am Ohr. »Wann wirst du es tun?«
Tarean dachte einen Moment nach. »Jetzt«, entschied er dann kurz entschlossen. »Schon morgen mögen sich die Ereignisse wieder überschlagen, und wer weiß, wann sich die nächste Gelegenheit für ein ruhiges Gespräch ergibt.«
Mit diesen Worten stand er vom Feuer auf, klopfte sich das trockene braune Gras von den Beinkleidern und schlenderte hinüber zu ihrem erbeuteten Flugschiff.
»Was machst du da?«
Mit schuldbewusster Miene fuhr Auril herum, als sie die Stimme in ihrem Rücken vernahm. »Iegi«, flüsterte sie überrascht. »Ich dachte, du wärst unterwegs, um die Umgebung auszukundschaften.«
»Das war ich auch«, antwortete der Vogelmensch, als er aus dem Schatten neben dem Rumpf des Flugschiffes zu der Albin ins blasse Mondlicht hinaustrat. »Doch jetzt bin ich wieder hier.« Er begutachtete das kleine Messer, mit dem sich die Albin an den Kyrilliankristallen am Heck des Schiffes zu schaffen gemacht hatte. »Ich frage mich, was Tarean zu dem, was du hier treibst, sagen würde?«
Auril sog die Luft ein und hob in einer abwehrenden Geste eine Hand. »Du darfst es ihm nicht sagen. Er würde nur noch wütender werden, als er schon ist.«
Der junge Vogelmensch nickte ernst. »Ja, das nehme ich auch an.«
Die Albin hielt den Atem an, doch Iegi machte keinerlei Anstalten, um das Flugschiff herum und zum Lagerfeuer zu laufen, an dem Tarean und Bromm saßen. Stattdessen blickte er sie nur erwartungsvoll an.
Nach einigen Herzschlägen des bangen Schweigens ließ Auril das Messer sinken und seufzte. »Du erwartest wahrscheinlich eine Erklärung von mir.«
Iegi machte einen weiteren Schritt auf sie zu, sodass er ihr jetzt ganz nahe stand. Das Glimmen ihrer eigenen Augen spiegelte sich als winzig grüne Flämmchen in den seinen wider. »Ja, daran wäre ich sehr interessiert«, sagte der Taijirinprinz mit leiser Stimme. »Du beschädigst das Schiff doch sicher nicht, weil du stillschweigend in Calvas’ Dienste getreten bist und uns alle umbringen willst, oder?«
Sie schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht, Iegi. Was denkst du von mir? Es ist nur …« Sie stockte und wandte den Kopf ab. Ein Schatten legte sich auf ihre Züge. Ein graues Schiff auf steinerner See. Ein Vogelmensch im eigenen Blute.
»Was hast du, Auril?«
Aus den Augenwinkeln sah die Albin, dass Iegi den Arm hob, um sie zu berühren. Doch dann hielt er inne und senkte ihn wieder.
Ein Bär, einem Wolfling zu Hilfe eilend. Und dann eine Wand aus Drachenfeuer.
»Tu es«, flüsterte sie.
»Was?«
Und ein Flugschiff mit schwarzen Segeln.
»Halt mich fest. Nur für einen Moment.«
Der Vogelmensch bewegte sich mit leichter Unruhe. »Auril. Das wäre nicht richtig. Ich glaube nicht, dass Tarean …«
»Halt die Klappe und tu es«, unterbrach Auril ihn, und es gelang ihr nicht ganz, die Verzweiflung aus ihrer Stimme zu verbannen, die sich in ihrem Inneren seit dem heutigen Morgen immer stärker aufgestaut hatte. Wie eine Welle spülte das Gefühl der Machtlosigkeit über sie hinweg und drohte sie zu ertränken. »Nur für einen Moment.«
Da zog Iegi sie an sich und schloss sie stumm in die Arme. Auril aber drückte sich an ihn wie ein verängstigtes Kind an den Vater. Erst Bromm, jetzt Iegi. Was geschieht nur mit mir? Was hat mir dieses elende Wasser des Sehens angetan? Ich wünschte mir, ich könnte die Zeit zurückdrehen – am liebsten bis zu dem Tag, an dem Sinjhen mich bat, Tarean nach At Arthanoc zu geleiten …
Nach einer Weile spürte Auril, wie ihr Verstand wieder die Oberhand über ihre Gefühle gewann, und der Griff ihrer Hände auf Iegis Rücken lockerte sich. Der Vogelmensch verstand das als Zeichen, dass sie nun bereit sein
Weitere Kostenlose Bücher