Tarean 02 - Erbe der Kristalldrachen
gefallen, ein einsames Krachen, das in den Bergen um sie herum verhallt war. Dem ersten Stein hatten sich weitere hinzugesellt. Risse waren in den Mauern und Türmen entstanden, klein erst, aber immer weiter aufklaffend, wie schwarze, tiefe Schnittwunden im blutleeren Leib eines finsteren Titanen. Riesige Brocken hatten sich gelöst und waren, begleitet von Lawinen aus Schutt, polternd herabgestürzt. Schließlich war das gewaltige Bauwerk in seinen Grundfesten erschüttert worden. Unter ohrenbetäubendem Getöse waren die Mauern umgefallen, die Türme zerbrochen, die Gebäude dem Erdboden gleichgemacht worden. Und ganz zuletzt war auch der Bergfried der Burg, Calvas’ dunkler Hexerturm, in der gewaltigen Wolke aus Steinstaub versunken, die den Untergang von At Arthanoc besiegelt hatte. Es war ein Schauspiel von erschreckender Schönheit gewesen, das die Steinernen mit Hilfe der Alten Macht für die Überlebenden der Schlacht inszeniert hatten.
Tarean hatte nie ganz verstanden, was die grauen Hünen dazu bewogen hatte, nach der Schlacht um At Arthanoc dafür zu sorgen, dass von Calvas’ Schreckensherrschaft keine Spuren verblieben. Und doch waren die Unterirdischen wenige Stunden nach dem Sieg über den Hexer und seine Horden erschienen, und sie hatten nicht nur dabei geholfen, die Tausenden von Toten im Steinboden der Grauen Berge zur letzten Ruhe zu betten. Am Ende hatten sie auch die Zerstörung der Hexerfeste herbeigeführt.
Heute, sechs Monde später, befand sich dort, wo sich tausend Jahre lang eines der größten Bollwerke der westlichen Reiche erhoben hatte, nur noch ein riesiger Haufen aus Schutt und geborstenen Steinquadern, aus dem sich Reste von Mauern erhoben wie das Gerippe eines vor Äonen verendeten Urzeitungeheuers.
In Tareans Erinnerung war die schiere Masse des Trümmerbergs im Laufe der Wochen und Monde langsam verblasst. Doch nun befanden sich Moosbeere, Ro’ik und er auf einer Anhöhe gar nicht weit von dem Fleck entfernt, von dem aus Tarean – damals gemeinsam mit Bromm und Kiesel – die Feste des Hexers erstmals erblickt hatte. Und mit dem erneuten Wirklichkeitwerden dieser Erinnerung drohte den Jungen aller Mut zu verlassen. Mehrere Tausend Tonnen Stein schienen jedes zuvor unentdeckte Gewölbe, das tief im Schoß des Berges liegen mochte, mit einer Endgültigkeit zuzudecken, mit der ein Sargdeckel die letzte Ruhestätte eines aus dem Leben Geschiedenen verschließt. Wie sollte er inmitten dieser Ruinenlandschaft irgendwelche Eingänge ins Erdinnere finden?
Am Himmel über At Arthanoc zogen rauchgraue, zerfaserte Wolken dahin, und die niedrig stehende Sonne des späten Nachmittags tauchte ihre dunstigen Leiber in rötliches Licht.
Auch Moosbeere schien über ihr Hiersein nicht glücklich. »Ich mag diesen Ort nicht. Er stinkt nach böser Magie wie ein totes Tier nach Verwesung.« Lautstark sog das Irrlicht die kühle Frühlingsluft durch die winzige Nase und verzog dann das hübsche Gesicht. Mit dem Argwohn einer Biene, die sich einer fremdartigen Pflanze nähert, von der sie nicht weiß, ob sie nicht vielleicht fleischfressend ist, begutachtete es die Trümmer von At Arthanoc.
Tarean roch nichts. Noch am Tag nach der Schlacht, als haushohe Leichenberge stinkender Wolflinge in Flammen aufgegangen waren und fetter, schwarzer Qualm das Land in weitem Umkreis verpestet hatte, hätte der Junge geschworen, dass der schier unerträgliche Gestank bis in alle Ewigkeit an den Berghängen rund um die Walstatt haften bleiben würde. Doch er hatte sich geirrt. Wind und Wetter hatten im Laufe des Winters alles Blut versickern, alles Fleisch verrotten und selbst die letzte Ahnung süßlichen Todeshauchs verwehen lassen. Geblieben war nichts als ein Feld voll zerbrochener Waffen, zerfetzter Rüstungen und ausgeblichener Knochen im Schatten der düsteren Ruine.
Es waren indes nur die Ausrüstung und die Knochen des Feindes, die hier der Witterung und den Aasfressern preisgegeben worden waren. Die Gefallenen des Heeres der verbliebenen freien Reiche waren mit allen Ehren, die die Menge der Toten und die Kürze der Zeit gestattet hatten, begraben worden. Und so befand sich nun in Tareans Rücken, hinter der Hügelkette im Süden, die letzte Ruhestätte für die mehr als dreitausend Menschen, Alben und Taijirin, die während des letzten Aufbegehrens der unterdrückten Völker Endars gegen die Tyrannei des Hexers ihr Leben verloren hatten. Der Junge sah das weitläufige Tal mit seinen Reihen um
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