Tarean 02 - Erbe der Kristalldrachen
werde aus der Luft ein wenig die Gegend auskundschaften. Komm, Ro’ik.« Und damit schwang er sich auf den Rücken des Greifen und erhob sich in den fahlblauen Himmel, der sich über den Grauen Bergen spannte.
»Ha, Erdgebundene! Ich für meinen Teil spüre gerne festen Boden unter den Füßen«, bemerkte Janosthin, während sie dem Prinzen und seinem Reittier nachblickten.
Eine Weile stapften sie schweigend nebeneinander her, einem langen, breiten Taleinschnitt folgend, der sie in südwestlicher Richtung aus dem Gebirge hinab nach Undur brachte. Der kalte Nordwind hatte nachgelassen, und gleichwohl gelegentlich ein paar Wolken die Sonne verdeckten, schien der Tag doch wie geschaffen, um unterwegs zu sein.
»Darf ich dich etwas fragen, Janosthin?«, erkundigte sich Tarean irgendwann.
Der Sette wandte sich zu ihm um. »Aber natürlich. Geradeheraus.«
»Wie lange bist du schon in den Diensten der Steinernen?«
Janosthin fuhr sich mit der Hand über den Bart. »Lass mich überlegen. Um die fünfzig Sommer dürften es schon gewesen sein. Oder fünfundzwanzig Zyklen, wie sie es nennen würden. Sie sind ein sehr zurückgezogen lebendes Volk. Aber da unsere Reiche sozusagen benachbart liegen, haben sich im Laufe der Jahrhunderte recht passable Bande zwischen uns entwickelt.« Er machte ein verschwörerisches Gesicht. »Du musst wissen, dass sich die Unterirdischen nicht gerne an der Oberfläche aufhalten. Es ist ihnen zu hell, und ich habe außerdem das Gefühl, dass ihnen das Fehlen von Tausenden Tonnen Felsgestein über dem haarlosen Schädel Unwohlsein erzeugt.« Der Sette zuckte mit den Schultern. »Nun, jedenfalls gibt es immer wieder einige aus meinem Volk, die für sie als Boten oder Hüter in Undur und den angrenzenden Landen unterwegs sind.«
»Was hast du gemacht, bevor sie dich baten, über die Ruinen von At Arthanoc zu wachen?«
»Ich war der Wächter eben jenes Ortes, zu dem ich euch gerade führe. Des Kristalldrachensteins von Tiefgestein.«
Bei dem Wort horchte Tarean neugierig auf. »Ein Kristalldrachenstein? Was ist das?«
Janosthins Gesicht verzog sich zu einem Lächeln. »Ein Kristalldrachenstein ist ein Ort der Begegnung zwischen den Kristalldrachen und ihren Dienern. Es heißt, dass die Steine, die, überall auf unserer Welt verteilt, an abgelegenen Orten zu finden sind, vor ewigen Zeiten von den Drachen selbst aufgestellt worden seien, wobei ihre Diener die Stätten später nach eigenen Vorstellungen verzierten und ausbauten«, erklärte er. »An dem Kristalldrachenstein von Tiefgestein nun trafen einst die Steinernen und die Kristalldrachen aufeinander, um sich auszutauschen und über die Geschicke der Welt zu sprechen. Das war allerdings vor meiner Zeit. Seit mehr als hundert Jahren sind die Kristalldrachen verschwunden … oder waren verschwunden, wie man jetzt wohl sagen muss. Die Steinernen riefen sie, aber sie erhörten den Ruf nicht mehr, konnten ihn nicht mehr erhören, wie wir nun ja wissen. Doch in Erinnerung an die alte Zeit und um das Andenken ihrer Meister zu ehren, bewahrten die Unterirdischen den Kristalldrachenstein, so wie andere Diener andere Kristalldrachensteine bewahrten.« Der Sette schürzte die Lippen. »Ich denke, die Kunde, die du ihnen überbringen wirst, mein Junge, wird sie ganz schön in Aufregung versetzen – nun, soweit man das bei diesen Steinschädeln überhaupt sagen kann. Endlich werden sie erfahren, warum ihre Rufe all die Jahre ins Leere gingen.«
»Du hast bis gestern niemals zuvor einen Kristalldrachen mit eigenen Augen gesehen, nicht wahr?«, fragte der Junge.
»Nein«, bestätigte der Sette. »Ich war noch nicht geboren, als sie von diesem Herrn der Tiefe eingekerkert wurden.«
»Sind dir irgendwann einmal Ritter des Kristalldrachenordens begegnet?«
»Hm, das ja«, sagte Janosthin mit einem Nicken. »Allerdings nicht häufig. Der Kreis der echten Ritter war kleiner, als viele Menschen angesichts der Größe ihrer Taten annehmen. Die meisten Angehörigen des Ordens, die man so traf, waren einfache Soldaten, Scholaren oder Bedienstete.«
»Ich habe nie einen Kristalldrachenritter kennengelernt«, sinnierte Tarean. »Nur Wilfert. Aber als ich alt genug war, um zu erkennen, wer er war, hatte er den Wappenrock des Ordens schon lange abgelegt.«
»Es waren stets tapfere Kämpfer«, sagte der Sette, als ihm klar wurde, dass der Junge die Frage aus einem ganz bestimmten Grund gestellt hatte. »Meist sehr ernsten Gemüts und von der Sache, für die
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