Tastenfieber und Liebeslust
dahin schicke ich Dir einen Teil meiner Aufzeichnungen, die mit Verantwortung und Abtreibung zu tun haben:
Markus, meine große Jugendliebe, lernte ich mit 18 Jahren kennen. Bei mir war es der berühmte ›Coup de foudre‹, und von dieser Liebe konnte mich in den folgenden vier Jahren nichts abhalten, obwohl sie mir viel Schmerz und Trauer zufügte.
Wir waren uns beide die ersten Geliebten. Während mir diese Schönheit etwas Einziges, nur uns Gehörendes, ja fast Heiliges war, war Markus der Meinung, dass ein Mann nicht nur eine Erfahrung haben könne. Bereits nach einem Jahr begann er seine ›Erfahrungen‹ zu erweitern, und ich litt schrecklich darunter.
Ich wollte mich nach jedem Betrug trennen, doch dann kämpfte er wieder neu um mich und schwur Treue, denn er wollte mich keinesfalls verlieren.
Er liebte meine Buntheit und mein spontanes Wesen, meinte aber stets, genau deshalb sei ich keine Frau zum Heiraten. Ich aber wollte für immer bei ihm bleiben, alles mit ihm teilen, seine Karriere unterstützen und alles dafür tun, dass er ein angesehener Philosophieprofessor werden würde, denn das war sein Ziel. Die bürgerlichen Lebensvorstellungen hatten mich damals noch fest im Griff.
Ebenso ihn. So ausgeprägt sein gesellschaftskritisches Denken war, so konservativ war dennoch seine Vorstellung von der Frau, die eine zum Heiraten war. Später wurde er ein radikaler Achtundsechziger.
Was ist Zeit?
Wenn ich heute in Heidelberg durch die Hauptstraße gehe und zum Fenster im ersten Stock dieses Altbaus hinaufsehe, liege ich gleichzeitig in Markus’ Armen, lese ihm meine neuen Gedichte vor, berichte ihm von meiner letzten Klavierstunde, erkläre ihm den Quintenzirkel, folge seinen Ausführungen über Heideggers ›Sein und Zeit‹ und genieße die vertraute Enge dieses unglaublich kleinen Zimmers. Ich sehe seine wunderschönen Hände, seinen trotzigen Mund, seinen begierdevollen, jungen Körper und gebe mich seinen Liebkosungen hin.
Dann ist da Blut. – Ich liege auf seinem Bett, krümme mich vor Schmerzen. Er verspricht mir, dass – falls ich noch einmal schwanger werden würde – er mich dann bestimmt heiraten werde, aber jetzt ginge das einfach nicht. Wir müssten erst unser Studium beenden und Geld verdienen. Damals gab es die Pille noch nicht und Abtreibung wurde mit Gefängnis bestraft.
Ein gütiger Freund, ein alter polnischer Arzt, der in einer Klinik bei den Amerikanern arbeitete und, wie wir, gerne Gast im ›Filmcafé‹ war, half mir und vielen anderen jungen Frauen in dieser verzweifelten Lage mit Spritzen, die das gerade befruchtete Ei zur Ausscheidung führten.
Ein uneheliches Kind war auch damals noch eine Schande. Nicht nur für Markus’ Familie, auch mein Vater hatte mir oft zu verstehen gegeben: Mit einem unehelichen Kind kommst Du mir nicht nach Hause! Und ich wollte kein Kind von einem Mann, der mein Kind nicht akzeptierte. Deshalb hatte ich mich zu der Abtreibung entschlossen.
Die Moral der frühen Sechziger war doppelbödig, klein und verlogen. Abtreibung war verboten, aber sie fand täglich statt, was weithin bekannt war. Alle meine Kommilitoninnen hatten eine Adresse für den sogenannten Notfall.
Auch wenn ich damals noch nicht die Kraft hatte, mich von Markus zu trennen, nach diesem Bruch in unserer Beziehung wollte ich vor allem eines: Meine Selbstständigkeit wiedergewinnen. Und von nun ab verminderte sich die Macht, die er bis dahin über mich gehabt hatte.
Mein Lieber, keine Frau treibt aus Leichtfertigkeit ab. Diese Entscheidung ist immer ein schwerer Schritt und meist eine Reaktion auf unverantwortliches Verhalten vonseiten der Männer.
Umarmung
Deine Eva
2. April – 14:51 Uhr
Mein liebes Evachen,
die Schilderung Deiner Heidelberger Zeit hat mich sehr ergriffen. Es ist zwar schon so lange her, aber ich litt bei jedem Satz mit. Wir Männer sind uns eben nicht bewusst, welche Verantwortung wir übernehmen müssen, wenn wir eine Liebesbeziehung eingehen. Ich habe als Student auch ›rumgemacht‹, aber als meine Freundin schwanger war, habe ich sie geheiratet. Abtreiben war und ist für mich undenkbar.
Ich kann meine Gefühle für Dich noch nicht richtig einordnen und schon gar nicht in Worte fassen. Wenn Du aber darüber sprechen und schreiben willst, dann gern. Ich bin da etwas hilflos. Von wegen stark und selbstbewusst! Auch wenn ich Dir oft so unterkühlt vorkomme, ich bin es nicht.
Vor ein paar Jahren, bei der Hochzeit meiner ältesten Tochter,
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