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Tastenfieber und Liebeslust

Titel: Tastenfieber und Liebeslust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elke Mascha Blankenburg
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umarmt
    Deine Eva
     
     
    2. April – 17:27 Uhr
    Mein liebes Evachen,
    wie schon oft wurde ich missverstanden. – Die 68er Zeit, die geistige Entwicklung und vieles, was bewegt wurde, bewerte ich absolut positiv.
    Deine Kritik an Politikern teile ich nicht. Es ist kein angenehmer, sondern ein sehr harter Job! Erst viele Jahre Klinkenputzen, dann bei Erfolg 18 Stunden Präsenz, kein Privatleben, jedes Wort auf die Goldwaage legen, damit es einem nicht im Munde umgedreht wird, sich mit Wichtigtuern auf Lokal- und Kreisebene gut stellen etc.
    Jede Einsicht und Erkenntnis, die sie haben (Politiker sind nicht blöder als wir, wohl eher andersherum), wird von Lobbyisten verwässert. Ich habe an Beratungen zum Arzneimittelgesetz teilgenommen. Ich weiß also, wie aus einem guten Konzept der Politiker langsam Mist wurde, weil die Pharmaindustrie gegen den Gesetzesentwurf der Regierung war und auf allen Ebenen Druck machte. Dies ist in einer Demokratie leider bei fast allen Gesetzen so.
    Die Führungselite der frühen 68er habe ich teilweise bewundert, und mancher theoretische Hintergrund wurde auch von mir geteilt: Die Aufarbeitung des Nationalsozialismus, das Aufbrechen der verknöcherten Strukturen in den Hochschulen und der Justiz, die Forderung nach Gleichberechtigung der Frauen u. a. m. sind alles positive Entwicklungen.
    Mit Deinem Bruder habe ich da nichts gemein!
    Was mir damals zuwider war, war der dogmatische Ansatz, die intolerante Rhetorik unter den Studenten. Wer wie ich an den nächtelangen Sit-ins und anderen Versammlungen teilnahm, der weiß, wovon ich rede und hat erlebt, wie Andersdenkende niedergeschrien, moralisch fertiggemacht wurden. In den Unis herrschte schlimmster Meinungsterror!
    Heute gehen mir die Alt-68er auf den Geist. Es ist ein Trauerspiel, wohin die – ursprünglich idealistische – Bewegung abdriftete. Was ist aus den damaligen Vorkämpfern geworden? Entweder sie sind rechts außen, hinterziehen Steuern oder schließen von der Kleidung auf die Geisteshaltung.
    Auch heute wird noch von Freud, Adorno und der Frankfurter Schule geredet. Schon Lorenz, immerhin ein Zeitgenosse, passte nicht ins Weltbild der 68er. Und alle neueren Erkenntnisse zur Genetik, Anthropologie, Soziobiologie und zum Determinismus gehen doch – im günstigsten Fall – ins eine Ohr rein und beim anderen raus. Aber vielleicht ist das immer so. Jugendliche Revolutionäre bilden, wenn sie alt sind, die neue Schicht der Ewig-Gestrigen.
     
    Wenn Leute, die immer konservativ oder reaktionär waren oder diejenigen, für die die bürgerliche Erwerbsgesellschaft immer das höchste Gut war, Steuern hinterziehen oder sich Villen anschaffen, dann bin ich nicht enttäuscht, weil es von diesen nicht anders zu erwarten war. Wenn aber ›Idealisten‹ plötzlich auch ihr Fähnchen nach dem Wind ausrichten und kleinbürgerliche Handlungs- und Denkmuster übernehmen, dann enttäuscht mich das sehr. Zumindest dann, wenn sie keine kritische Distanz zu ihren ehemaligen Forderungen einnehmen, und wenn deren späterer Lebensweg weder durch Liebe (agape) zu anderen, noch Güte oder durch ein soziales Gewissen gekennzeichnet ist.
    Jeder Mensch kann sich irren, vor allem junge Menschen, die noch wenig wissen und keine Lebenserfahrung haben. Man kann dazulernen und erkennen, dass manches, was man in seinem jugendlichen Überschwang gesagt und gemacht hat, wohl falsch war. Aber man muss zugeben, dass man sich irrte.
    Es wäre noch vieles zu sagen. Aber bitte, bitte meine liebe, mutige, wilde, ehrliche und leidenschaftliche Eva, pack mich nicht in die nächste Schublade.
     
    Ich liebe Dich! Ist 19.30 Uhr in Ordnung?
    Dein reaktionärer Männerbündler
     
     
    2. April – 18:38 Uhr
    Caro Barone mio,
    mich hat irgendein Virus erwischt, d. h. Du triffst keine leidenschaftliche, wilde, wenn auch immer noch mutige und ehrliche Eva an.
     
    Die armen Politiker! »Erniedrigendes Klinkenputzen, 18 Stunden Präsenz, kein Privatleben, jedes Wort auf die Goldwaage legen, sich mit Wichtigtuern auf Lokal- und Kreisebene gut stellen etc.«
    Wenn sie so intelligent sind, warum tun sie das dann? Warum wollen sie zwanghaft immer höher in der Hierarchie aufsteigen, immer weniger Privatleben haben? Es zwingt sie doch keiner, sich auf Kreisebene gut zu stellen, Phrasen zu dreschen und Bürger mit bewusst verlogenen Wahlversprechen für die Erhaltung ihrer 18 Stunden Präsenz zu gewinnen?
     
    Und wie ist es denn hier mit dem Idealismus? Nach den Anfangsjahren,

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