Tate Archer – Im Visier des Feindes: Band 1 (German Edition)
loszurennen, so verzweifelt möchte ich dem winzigen, entsetzlichen Geräusch entkommen, das Christinas Tränen machen, als sie auf das Display des nicht zu ortenden schwarzen Telefons meiner Mutter fallen.
Ich sitze auf dem Badewannenrand und zähle jeden Atemzug: durch die Nase ein, durch den Mund aus. Ich komme auf die Füße und starre in den glatten Spiegel mit Edelstahlrahmen. Ich nehme die Baseballkappe ab und sehe mir mein Gesicht an, den Schnitt über meiner Augenbraue, die Prellung auf meiner Wange, die Trauer in meinen Augen.
Meine Mutter hat nicht so auf den Tod meines Vaters reagiert, wie ich dachte.
Sie verhält sich, als wenn ich gesagt hätte, er ist auf Geschäftsreise. Keine Tränen. Nicht einmal eine Grimasse oder ein Wimmern. Nur Handlung. Rationalität.
Es tut mehr weh, als ich erklären kann. Meine Mom ist Wissenschaftlerin, Rationalität ist also schon ihr Ding, aber das hier ist gewaltig. Und ich dachte, dass sie vielleicht immer noch etwas füreinander empfinden, dass sie, auch wenn sie nicht zusammen waren, etwas Besonderes gemeinsam hatten, auch wenn mein Dad das niemals zugegeben hätte. So clever und raffiniert er auch war, so kalt und logisch, hatte er es sich dennoch nicht verkneifen können, ihren zweiten Vornamen als Passwort zu wählen. Und für meine Mutter, da war ich mir sicher, galt das Gleiche. Zum Teufel, als ich das letzte Mal bei ihr zu Hause war, habe ich herumgeschnüffelt und in einer Schreibtischschublade ein Bild von ihnen gefunden, das fünf Jahre zuvor aufgenommen worden war, wenn man nach der Kurzhaarfrisur urteilen wollte, die meine Mutter damals trug. Es sah so aus, als wenn irgendwer das Bild auf einer Party gemacht hätte, in einem Augenblick, in dem ihnen nicht bewusst war, dass sie beobachtet wurden. Die Intimität, wie sie einander ansahen, die Art, wie er den Kopf zu ihr neigte und sie ihn anlächelte … das Gefühl, in ihre Privatsphäre einzudringen, war überwältigend. Deswegen stopfte ich das Foto zurück in die Schublade und schob sie zu. Ich dachte, es hätte etwas zu bedeuten, dass sie es dort aufbewahrte. Dass sie ihn immer noch liebte. Aber anscheinend hatte ich mich getäuscht.
Ich habe keine Ahnung, wie lange ich im Badezimmer war, doch als ich rauskomme, nehme ich plötzlich den Geruch von Knoblauch und Zwiebeln wahr, das Geräusch, wie etwas in einer Pfanne brutzelt … und das herzliche Lachen meiner Mutter. Und meiner Freundin.
»Hat er wirklich geglaubt, dass das funktioniert?«, will meine Mutter wissen.
Christina schnaubt. »Na klar«, sagen sie beide gleichzeitig.
Ich schätze mal, sie haben sich zusammengerauft. Ich denke darüber nach, im Flur stehen zu bleiben und zu lauschen, doch dann merke ich, wie hungrig ich bin, und lasse mich vom Duft des Essens zurück in die Küche leiten. Christina steht am Herd und stochert in dem brutzelnden Gemüse herum. Neben ihr auf dem Tresen steht ein Glas Wein, was ein bisschen merkwürdig ist, weil Christina normalerweise nicht trinkt – und Mom noch nie zuvor etwas angeboten hat.
Meine Mom holt ein Glas Soße aus dem Schrank. Als sie mich erblickt, lächelt sie und hält es hoch. »Ich bin nicht sehr oft hier, deshalb kommt das Essen meistens aus Gläsern oder Dosen, von ein paar Ausnahmen abgesehen.«
»Das ist mir im Moment egal. Ich würde alles essen«, erkläre ich.
Ich mache ein paar Schranktüren auf und zu, bis ich schließlich ein Glas finde.
»Wein?«, fragt meine Mom.
Ich starre sie an. »Wirklich, Mom?«
Sie schaut auf das Glas in ihrer Hand herab. »Du und Christina, ihr habt eine Menge durchgemacht. Vielleicht hilft’s, um zu entspannen.«
»Nein, danke.« Ich will mich nicht entspannen. Ich will rauskriegen, was los ist – und wie es weitergeht.
Ihr Blick wird für einen Augenblick streng, doch dann wandelt sich ihr Ausdruck und wird wieder sanft. »Dann gibt es noch Brunnenwasser.«
Ich fülle mein Glas am Wasserhahn und setze mich an den Tisch. »Wo ist der Scanner?«
Mom kippt die Soße über Zwiebeln und Knoblauch und übernimmt das Rühren, während sich Christina an den Tisch setzt. »Ich hab ihn in meine Tasche gesteckt.« Sie deutet mit dem Löffel darauf.
»Wie lange weißt du schon davon?«
»Von der Technologie weiß ich schon seit Jahren. Ich habe mich mit Fred beraten, als er sie entdeckt hat, aber er hat den Scanner erschaffen … nachdem wir uns getrennt hatten.«
Ich fahre mir mit der Zunge über die Zähne und beobachte Mom genau. Ich sterbe
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