Tate Archer – Im Visier des Feindes: Band 1 (German Edition)
Mom an. »Sie hatten sie schon mit mir gesehen – und sie hätten sie umgebracht.«
Weil ich eine Beschäftigung brauche, nehme ich Christinas Teller und Glas vom Tisch und stelle beides in die Spüle. Dann kippe ich den Bodensatz des Weins in das Becken.
Auf dem Boden des Glases ist eine körnige, weiße Ablagerung.
Etwas durchzuckt mich, zu schmerzhaft, um es zu benennen, zu groß, um Worte dafür zu finden. Ich hebe das Glas ins Licht und drehe mich um. Durch das hauchdünne Kristall fange ich den bernsteinbraunen Blick meiner Mutter auf.
»Was hast du getan?«, flüstere ich. Schließlich ist sie Chemikerin. Sie kennt bestimmt zwölf einfache Möglichkeiten, jemanden zu vergiften.
Schnell tritt meine Mutter vor. Ihre festen, kühlen Hände schließen sich um meine und sie schält meine Finger von dem Glas ab. »Es zerbricht dir noch in der Hand«, sagt sie. »Du brauchst heute Abend nicht noch eine Verletzung.«
»Du hast ihr was in den Wein getan.« Es kostet mich all meine Beherrschung, sie nicht zu schütteln.
Meine Mutter nickt, wieder mit versteinertem Gesicht. »Diazepam. Eine Kapsel.«
»Du hast ihr ein Valium untergejubelt?« Ein Teil von mir ist erleichtert, dass es nicht Rizin oder Coniin war, denn im Moment würde ich ihr alles zutrauen. Aber trotz meiner Erleichterung bin ich immer noch angepisst. »Christina ist kein Kind, Mom. Und sie ist nicht dein Feind!« Während ich diese Worte sage, wird mir bewusst, wie überzeugt ich von ihnen bin.
»Sei nicht so naiv. Jeder könnte jetzt unser Feind sein, Tate. Race ist hinter uns her, Brayton ist bereit zu töten, um an das Gerät zu kommen. Jetzt gibt es nur noch dich und mich und wir müssen irgendeine Lösung finden – ohne ein zusätzliches Paar Augen und Ohren.«
Sie legt mir eine Hand auf den Arm, doch ich zucke vor ihr zurück. »Wir? Was ist das? Du hast uns verlassen. Wie oft habe ich dich in den letzten vier Jahren zu sehen gekriegt?«
Meine Mutter schüttelt den Kopf. »Dein Vater hatte eine straffe …«
»… eine straffe Leine für mich?«
Sie zuckt zusammen. »Natürlich nicht. Eine straffe Zeitplanung. Deine Vorbereitung war ihm sehr wichtig, und wir hatten uns geeinigt, dass es so laufen sollte, als wir entschieden, Kinder zu bekommen. Es hat mir nicht immer gefallen, aber ich habe es respektiert.«
»Das will ich gerade nicht hören«, sage ich und wedele mit den Händen vor mir herum. »Hör auf.«
»Ich wollte dich öfter sehen«, erklärt sie und macht einen vorsichtigen Schritt auf mich zu. »Ich wollte, dass du den Sommer über bei mir bist. Ich wollte mit dir reisen, meine Familie besuchen. Er hat es nicht erlaubt.«
»Und du hast dich nicht gegen ihn durchgesetzt.«
»Das konnte ich nicht so richtig.« Sie atmet tief ein. »Ich habe an das geglaubt, was er tat. Ich wusste, du musstest vorbereitet sein. Und offensichtlich lag ich damit richtig. Genau wie er. Und ich wusste, dass er und Chicão und deine anderen Lehrer, die alle zu den Fünfzig gehören, dazu fähig sein würden.«
»Willst du damit sagen, dass jede verfluchte Person in meinem Umfeld über alles Bescheid wusste, während ihr mich absichtlich im Dunkeln gelassen habt?«
Sie hebt die Hände. »Das war vorübergehend notwendig, Tate. Und bedenke nur einmal, was du heute durchgemacht hast. Glaubst du wirklich, du hättest das überleben können, wenn dein Vater und die anderen dich nicht so trainiert hätten?«
»Vielleicht nicht, aber ich weiß noch etwas anderes«, sage ich und stoße einen Finger in Richtung ihres Gesichts. »Ohne Christina hätte ich den Tag heute nicht überstanden. Sie hat mir drei Mal das Leben gerettet. Und das ist nicht übertrieben, Mom. Drei. Beschissene. Male. So, wie ich das also sehe, geht es um mich und sie, und wenn du ihr wehtust …« Ich ziehe die Hand zurück und lasse sie als schwere, heiße Faust an meiner Seite herabfallen, beschämt, dass ich so sehr an Christina gezweifelt habe, ihr die Schuld an etwas gegeben habe, über das sie keinerlei Kontrolle hat, wovon sie nicht einmal etwas wusste.
»Ich würde ihr nicht wehtun. Das war nie meine Absicht.«
»Was war denn deine Absicht?«
Sie reißt die Arme hoch. »Ganz ehrlich? Hauptsächlich wollte ich sichergehen, dass sie heute Nacht vernünftig schlafen kann. Ihr helfen, sich auszuruhen. Sie war quasi katatonisch, als ich euch aufgelesen habe. Sie sah traumatisiert aus.«
Was das angeht, hat sie recht. »Aber du hast sie nicht um Erlaubnis gefragt. Hattest
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