Tate Archer – Im Visier des Feindes: Band 1 (German Edition)
aber seine kann ich sehen. Seine ganze Fröhlichkeit hat sich verflüchtigt, von seiner Empörung weggebrannt. Es sieht aus, als sei es sein innigster Wunsch, sie zu töten. Schmerzvoll. Es treibt mir den Atem aus den Lungen. Ich bin mir nicht sicher, dass unser Status als Mitglieder der Fünfzig momentan viel zählt. In der gedämpften, angespannten Ruhe kann ich beinahe die wortlose Schlacht hören, die Rufus und Mom gegeneinander führen. Den Streit zwischen zwei Menschen, die die Welt, in der wir leben, viel besser verstehen als irgendjemand sonst in diesem Raum. Meine Mutter wirkt so klein, so unbedeutend im Schatten seines Zorns.
Doch dann blinzelt Rufus.
Die Schultern meiner Mutter entspannen sich ganz leicht. »Du wirst dafür sorgen, dass wir hier sicher rauskommen«, sagt sie. Noch immer hat sie die Waffe nicht gesenkt. »Du wirst uns eins eurer Fahrzeuge zur Verfügung stellen und dann sind wir weg.«
»Timothy!«, bellt Rufus, während er meine Mutter ansieht. »Gib ihnen ihre Sachen und bring sie zur Grundstücksgrenze. Und der Rest von euch tritt zurück!«
Unglaublich. Aaron, sein Bruder, die Zwillinge … sie alle treten einen halben Schritt zurück und ich kann wieder atmen. Christina sinkt in meine Arme, die Erleichterung des Augenblicks ist zu viel für sie. Mir geht’s genauso, aber ich schaffe es, uns beide aufrecht zu halten.
»Tötet die H2!«, ertönt da ein Schrei von hinten. Es ist Theresa, die auf einem Stuhl steht und direkt auf Christina zeigt. Es ist eine kindische, armselige Geste, doch augenblicklich geht ein Raunen der Zustimmung durch den Saal. Ich empfinde kein bisschen Sympathie mehr für sie.
Besonders wenn ich mich umschaue und die Wirkung sehe, die dieses eine knochige, dumme Mädchen hervorruft. All diese Bishops, zum Hass und zur Ignoranz erzogen … Die Zündschnur, die sie angesteckt hat, ist kurz – es dauert nur einen Moment, bis die Menschenmenge um uns herum Feuer fängt. Von überall her kommen Hände, hinter mir, zu beiden Seiten, und greifen nach Christina. Sie schreit vor Schmerzen, als jemand ein Büschel ihrer Haare zu fassen kriegt. Ich schlage um mich, auf alle Ellbogen und Knie, jage einem Kerl den Magen durch die Wirbelsäule, verbiege einem anderen das Knie. Aber es ist nicht genug, nicht einmal annähernd, denn ein paar Sekunden später wird Christina von mir fortgerissen.
Sie macht einen Buckel, als sie sie hochheben und jeder versucht, einen Teil von ihr zu packen. Alle wollen sie für das Verbrechen bestrafen, eine H2 zu sein. Obwohl mindestens drei Leute die Finger in ihren Haaren haben, wendet sie den Kopf. Und sieht mich. Sie blinzelt, und die Tränen strömen über ihr Gesicht, als sie eine zitternde Hand in meine Richtung ausstreckt. Die Qual in ihren Augen entlockt meiner Kehle einen fremdartigen, tierischen Laut. Ich dränge mich durch die Leiber, kämpfe mich vor, um zu ihr zu gelangen, und in meinem Kopf ist eine stabile Mauer der Panik. Sie werden Christina zerreißen – und ich muss zusehen. Nie zuvor habe ich mich so machtlos gefühlt.
Etwas Hartes trifft mich seitlich am Kopf und löst Bomben in meinem Schädel aus, helle Blitze weiß glühenden Schmerzes. Ich falle auf die Knie und höre durch das Klingeln in meinen Ohren die Stimme meiner Mutter. Sie befiehlt nicht mehr, sondern kreischt jetzt auch. Ein Wort, immer und immer wieder.
Meinen Namen.
Ich versuche, auf die Füße zu kommen, aber irgendjemand schlägt mich nieder. Ich verliere. Ich verliere Christina. Verliere alles. Ich bin …
Als der Schuss abgefeuert wird, verstummen alle.
»Lasst sie runter, oder ich leg ihn um«, ruft meine Mutter.
Um mich herum entsteht eine Lücke; ich springe auf die Füße, stoße Hände fort, die vielleicht nur helfen wollten. Das ist mir scheißegal. Alles, was mich interessiert, ist …
Christina fällt mir schluchzend in die Arme, und auch ich gebe ein Schluchzen von mir, als ich sie an meine Brust drücke. Mit zitternden Händen taste ich sie ab, so als wollte ich sichergehen, dass sie komplett ist. Nach ein paar Sekunden gelingt es mir, den Blick von ihr loszureißen und mich umzusehen. Hundert Augenpaare schauen auf meine Mutter, die in der Nähe der Wand steht und die Mündung ihrer Waffe an Aaron Bishops Schläfe hält. Ich schaue nach demjenigen, den der erste Schuss getroffen hat, doch dann wird mir klar, dass sie in die Luft gefeuert haben muss.
Schwer atmend hält Rufus die Arme in die Luft und leuchtet mit dem Licht des
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