Tatort Oktoberfest (German Edition)
eine Frau in dieser Zeit verlassen kann, in der beide dieses neue Leben erschaffen haben. Nein, er kennt Luigi zwar nicht so genau, aber doch so gut, dass er weiß, dass irgendetwas faul ist. „Ich schaue, dass ich Luigi finde“, verspricht er, und es ist ihm sehr ernst mit dem Versprechen.
Als er vor die Haustür tritt, sieht er die Hundebesitzer immer noch drüben vor dem Park stehen. Auf seiner Straßenseite ist die Sonne von dem gegenüberliegenden Haus verschluckt worden und kann ihn nicht mehr blenden. Wie genau kenne ich Luigi eigentlich? fragt er sich, als er die Straße entlangwandert. Er hatte Luigi in Tropea getroffen und sich mit ihm angefreundet, als Luigi, damals 15, mit seinen Eltern dort Urlaub machte. Luigis Vater stammte aus einem kleinen Ort nördlich von Nicotera und war schon in den frühen sechziger Jahren nach Deutschland ausgewandert. Er wohnte erst irgendwo im Ruhrgebiet, kam dann nach München und war vor etwa fünf Jahren gestorben. Luigi ist hier aufgewachsen, und sein Dialekt ist, wenn er will, so münchnerisch, dass ihn jeder waschechte Münchner fragt, in welchem Stadtteil er geboren wurde und aufgewachsen ist.
Eins gab das andere, die Verbindung hielt über die Jahre, und irgendwann begann er, ihm ab und an Informationen zu liefern. Hat Luigi etwas erfahren, das ihn zwingt unterzutauchen? Aber hätte er dann nicht wenigstens seine Frau verständigt? Oder wollte er seine Familie schützen? Und was ist mit dieser Claudia, der schönen Wirtin, die alle Schlagzeilen beherrscht? Fängt heute nicht der Wettbewerb an, den sie mit dem Wurstfabrikanten Ochshammer bestreitet? Vielleicht sollte er doch hierbleiben. Er greift zu seinem telefonino. „Di Flavio. Sagen Sie, Heimstetten, kann ich Ihre Wohnung noch einen Tag länger okkupieren? Ich habe sowieso Urlaub und würde gern ein paar Freunde treffen, wenn ich schon hier bin. Vorausgesetzt, ich kann den Flug noch umbuchen. Dafür haben Sie dann ein paar Tage auf Mallorca gut, ist das ein Angebot?“
„Ja, meinetwegen, aber sagen Sie meinem Chef nichts. Er will Sie unbedingt wieder auf Mallorca und in Sicherheit wissen.“
„Danke.“
Di Flavio steigt in die U-Bahn, doch statt Richtung Olympiaeinkaufszentrum zu fahren, entscheidet er sich für die entgegengesetzte Richtung. Zwar schmerzt sein Kopf inzwischen höllisch, aber der Arzt hat ja gemeint, das Oktoberfest könnte er sich ansehen. Sicher, er wird bei Limo bleiben.
Die große Trommel, aus der sonst die Lottozahlen gezogen werden, dreht sich bereits fünf Minuten. Das Monstrum steht, extra mit einem Lastwagen hierher geschafft, auf dem Podium gleich neben der Kapelle. Eine überdimensionale Sanduhr ergänzt die Staffage. Die ballgroßen Kugeln mit den Zahlen auf ihrem Bauch rollen wie spielende Kinder übermütig in dem Glasbehälter umeinander, als wüssten sie, dass sie gleich stillstehen müssen. Doch noch werden sie nicht angehalten, ihnen bleiben weitere fünf Minuten für ihr freies Spiel. Wieder und wieder dreht sich die große Sanduhr automatisch, und der Sand beginnt erneut von einer Hälfte in die andere zu rinnen.
Kurz vor der Wende, die letzten Sandkörnchen rutschen eilig zu ihren schon wartenden Genossen, quittiert die Blaskapelle diese mit einem Tusch. Im Behälter verabschiedet sich eine Kugel von den anderen, durchläuft einen Glasschlauch, trudelt dann hinaus, um sich wie ein frisch geschlüpftes Ei auf einem Ständer zu platzieren. Noch drei Minuten und ein Prosit auf die Gemütlichkeit, zwei und ein Prosit, eine und ein Prosit … Wieder und wieder werden die Maßkrüge gehoben. Drei Kugeln warten jetzt bereits, nur die vierte und letzte steht noch aus. Wieder der Tusch, doch ohne das Prosit, die Sanduhr bleibt stehen. Die Zeit ist um. Das Publikum im Zelt schaut gebannt zur Bühne, die Spannung ist greifbar. Die letzte Kugel gleitet majestätisch auf ihren Platz.
Ochshammer wischt sich den Schweiß von der Stirn, und ohne sich dessen bewusst zu werden, setzt er den Maßkrug an die Lippen und genehmigt sich einen kräftigen Schluck. Erschrocken stellt er umgehend den Krug wieder auf den Tisch zurück, im Hinterkopf Kopitzkis strenge Worte: „Versuchen Sie, so wenig wie möglich zu trinken.“
„Dann bestelle ich gleich Wasser.“
„Herr Ochshammer, das ist nicht Ihr Ernst, oder?“
„Okay, ich werde Ihren Rat beherzigen“, hatte er gebrummt und sich daran gehalten. Meist hat er den Maßkrug nur gehoben und an dem Bier genippt, als wäre es
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