Tauben im Gras - Koeppen, W: Tauben im Gras
wohl? ich liebe sie doch.‹ Henriette saß in ihrem Zimmer in einem Hotel am Quai Voltaire. Vor dem Hotel floß die Seine. Drüben am anderen Ufer lag der Tuileriengarten, ein oft gemaltes, ein öfter noch photographiertes, ein immer wieder berückendes Bild. Christopher hatte eine laute Stimme. Aus der Hörmuschel klang seine Stimme wie ein Brüllen. Er brüllte immer wieder dieselben Sätze: »Ich verstehe dich; aber glaube mir, es würde dir gefallen. Es würde dir sicher gefallen. Es würde dir sehr gut gefallen. Mir gefällt es auch sehr gut.« Und sie sagte immer wieder dieselben Worte: »Nein. Ich kann nicht. Du weißt es. Ich kann nicht.« Er wußte es, aber er verstand es nicht. Oder er verstand es, aber so wie man eine Traumerzählung versteht und dann sagt: »Vergiß es!« Sie sah, während sie mit Christopher sprach, die Seine, sie sah die Tuilerien in der Sonne liegen, sie sah den lieblichen Pariser Frühlingstag, die Landschaft vor dem Fenster glich einem Renoir, aber ihr war es, als ob durch die Grundierung ein anderes Bild durchbräche,ein dunkleres Gemälde. Die Seine verwandelte sich in die Spree, und Henriette stand am Fenster eines Hauses am Kupfergraben, und drüben lag die Museumsinsel, lagen die preußisch-hellenischen Tempel, an denen ewig und ewig gebaut wurde, und sie sah ihren Vater am Morgen ins Amt gehen, er schritt wie eine Menzelsche Figur aufrecht, korrekt, stäubchenfrei, den schwarzen steifen Hut grade über den goldenen Kneifer gesetzt, über die Brücke in sein Museum. Er war kein Kunsthistoriker, er hatte nicht unmittelbar mit den Bildern zu tun, wenn er sie natürlich auch alle kannte, er war Oberregierungsrat in der Generaldirektion, ein Verwaltungsmann, der die Ordnung im Hause unter sich hatte, aber für ihn war es sein Museum, das er selbst an den Feiertagen nicht aus den Augen ließ und dessen jeweiligen kunsthistorischen Leiter er als einen Unmündigen ansah, als einen für die Unterhaltung der Besucher engagierten Artisten, dessen Tun und Angabe nicht weiter ernst zu nehmen war. Er lehnte es ab, in die Wohngegenden des neuen Westens zu ziehen, aus dem Blick des Museums, er blieb in der Wohnung am Kupfergraben, wo es karg und preußisch zuging (blieb da auch nach seiner Entlassung und bis zu dem Tag, als sie ihn holten, ihn und die schüchterne Frau, Henriettes Mutter, die im Schatten von soviel Preußentum unselbständig und willenlos verkümmert war). Henriette spielte als Kind auf den Stufen des Kaiser-Friedrich-Museums unter dem Denkmal des kriegerisch zu Pferd sitzenden Dreimonatskaisers mit den schmutzigen, lauten und herrlichen Gören der Oranienburgerstraße, den Rangen vom Monbijouplatz, und später, als sie, nach der Lyzeumszeit, Schauspielschülerin bei Reinhardt am Deutschen Theater war und über die Brücke zur Karl Straße ging, riefen die Halbwüchsigen, die einstigen Spielgefährten, die sich jetzt unter den Hufen des Kaiserpferdes zu heimlichen Umarmungen trafen, ihr zärtlich »Henri« zu, und sie winkte entzückt zurück und rief »Fritz« und »Paule«, und der korrekte Stäubchenfreie Oberregierungsrat sagte:»Henriette, das geht nicht.« Was ging, und was ging nicht? Es ging, daß sie in Berlin den Reinhardt-Preis als beste Schülerin ihres Jahrgangs bekam; aber es ging nicht, daß sie in Süddeutschland, wohin sie verpflichtet war, die Liebhaberin in den Freiern von Eichendorff spielte. Es ging, daß sie beschimpft wurde; es ging nicht, daß sie engagiert blieb. Es ging, daß sie ein Wanderleben führte und mit einer Emigrantentruppe in Zürich, Prag, Amsterdam und New York tingelte. Es ging nicht, daß sie irgendwo eine unbefristete Aufenthaltsbewilligung, die Arbeitserlaubnis oder für irgendein Land ein Dauervisum bekam. Es ging, daß sie mit anderen Mitgliedern der Tingeltruppe aus dem Deutschen Reich ausgebürgert wurde. Es ging nicht, daß der korrekte Oberregierungsrat weiter im Museum arbeitete. Es ging, daß ihm das Telefon und die Bank in den Anlagen verboten wurde. Es ging, daß sie in Los Angeles in einer Speisewirtschaft die Teller abwusch. Es ging nicht, aus Berlin der Tochter Geld zu schicken, damit sie in Hollywood auf eine Filmrolle warten konnte. Es ging, daß sie aus dem Tellerwischjob entlassen auf der Straße stand, einer sehr fremden Straße, und daß sie hungrig die Einladung eines fremden Mannes annahm, der zufälligerweise ein Christ war. Er heiratete sie, Christopher Gallagher. Es ging nicht, daß ihr Vater seinen Namen
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