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Tauben im Gras - Koeppen, W: Tauben im Gras

Tauben im Gras - Koeppen, W: Tauben im Gras

Titel: Tauben im Gras - Koeppen, W: Tauben im Gras Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Koeppen
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Mercurius mit dem gefüllten Beutel beherrschte die Szene. Edwin sah in dieser Stadt ein Schauspiel und ein Beispiel, sie hing, hing am Abgrund, war in der Schwebe, hielt sich in gefährlicher mühsamer Balance, sie konnte ins Alte und immerhin Bewährte, sie konnte ins Neue und Unbekannte schwanken, konnte der überlieferten Kultur treu bleiben, doch auch in vielleicht nur vorübergehende Kulturlosigkeit absinken, vielleicht als Stadt überhaupt verschwinden, vielleicht ein Massenzuchthaus werden, in Stahl, Beton und Übertechnik die Vision des phantastischen Gefängnisses von Piranesi erfüllen, des merkwürdigen Kupferstechers, dessen römische Ruinen Edwin so liebte. Die Bühne war zur Tragödie hergerichtet, aber was sich im Vordergrund abspielte, vor der Stundenrampe, die persönlichen Weltberührungen blieben vorläufig possenhaft. Im Hotel warteten Leute auf Edwin. Man hatte sie ihm gemeldet, Journalisten, Photographen, eine Ausfragerin hatte ihr Anliegen hinaufgeschickt, unsinnige Fragen, ein Schwachsinngespräch. - Edwin mied nicht immer die Öffentlichkeit und ihre Vertreter, sie strengten ihn zwar an, freilich, es kostete ihn Überwindung, zu Fremden zu sprechen, aber zuweilen, ja oft, hatte er es schon getan, hatte es vollbracht, hatte mit einem Scherz die Torheit befriedigt und sich die Sympathien der Meinungsmacher erworben, aber hier in dieser Stadt fürchtete er die Journalisten, er fürchtete sie, weil er hier, wo Erde und Zeit schon gebebt hatten und gleich ins Nichts brechen konnten oder ins Neue, ins Andere, in die unbekannte Zukunft, vonder man nichts wußte, hier würde er nicht scherzen können, nicht leicht das gute geistvoll tändelnde Wort finden, das man von ihm erwartete. Und wenn er die Wahrheit sagen würde? Kannte er denn die Wahrheit? () älteste Frage: was war Wahrheit? Er hätte nur von Befürchtungen reden können, unsinnigen Ängsten vielleicht, der Melancholie Lauf lassen, die ihn hier überkommen hatte, aber Furcht und Trauer schienen ihm hier in die Keller verbannt zu sein, in die Keller, über die Häuser gestürzt waren, und dort ließ man sie nun eine Weile. Der Geruch dieser zugeschütteten Keller lag über der Stadt. Niemand schien es zu merken. Vielleicht vergaß man die Grüfte ganz. Sollte Edwin erinnern?
Die Stadt zog ihn an. Trotz allem zog sie ihn an. Er legte das seidene Mönchsgewand ab und kleidete sich, der Welt angepaßt, zeitgenössisch schicklich. Vielleicht verkleidete er sich so. Vielleicht war er kein Mensch. Er eilte die Treppe hinunter, den leichten schwarzen Hut aus der Londoner Bond Street ein wenig schräg in die Stirn gezogen. Er sah überaus vornehm und etwas wie ein alter Zuhälter aus. Auf dem Treppenabsatz vor der Halle bemerkte er Messalina. Sie erinnerte ihn an eine entsetzliche Person, an ein Gespenst, das in Amerika als Gesellschaftsjournalistin arbeitete, ein Berufsklatschweib, und Edwin lief die Treppe wieder empor, suchte die Tür zu einem Hinterausgang, ging an Wäschekammern vorbei, an kichernden Mädchen, sie schwangen Bettücher Leintücher Totentücher, Hüllen für die Leiber und Hüllen für die Liebe, für Umarmung, Zeugung und letzte Atemzüge, er eilte durch eine Frauenwelt, durch Randbezirke des Mütterreiches, und, nach anderer Luft dürstend, öffnete er eine Tür und fand sich in der geräumigen und berühmten Küche des Hotels. Fatal! Fatal! Das unberührte Mahl in seinem Zimmer bedrückte ihn wieder. Wie gerne hätte Edwin sich sonst mit dem Chef über die Physiologie-du-goût unterhalten und hätte den hübschen Küchenjungen zugesehen, die sanfte wie Gold glänzendeFische schuppten. So stürmte er durch Fleischsuppendampf und scharfen Grünzeugdunst zu einer weiteren Tür, die hoffentlich endlich ins Freie führe - doch auch sie führte nicht wirklich ins Freie. Edwin stand nun im Hof des Hotels vor einem eisernen Gestell, das die Fahrräder des Personals, der Köche, Kellner, Pagen und Hausdiener, barg, und hinter dem Gestell stand ein Herr, den Edwin in der Verwirrung einer Sekunde für sich hielt, für sein Spiegelbild, für seinen Doppelgänger, eine sympathisch-unsympathische Erscheinung, doch dann sah er, daß es natürlich Täuschung war, gedankliche Absurdität, nicht sein Ebenbild stand da, sondern ein jüngerer, ihm nicht einmal entfernt ähnlich sehender Herr, der aber dennoch verwandt sympathisch-unsympathisch blieb und etwa einem Bruder zu vergleichen war, den man nicht mochte. Edwin begriff: der Herr war ein

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