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Tauben im Gras - Koeppen, W: Tauben im Gras

Tauben im Gras - Koeppen, W: Tauben im Gras

Titel: Tauben im Gras - Koeppen, W: Tauben im Gras Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Koeppen
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Behrend Gespräche mit Carla in der Einsamkeit der Mansarde. Mutter und Tochter hatten sich nichts mehr zu sagen. Und Carla, die in dem Café, das sie als Nachmittagssitz der Mutter kannte, Frau Behrend gesucht hatte in dem Gefühl, sie sehen zu müssen, bevor sie in die Klinik ging, um sich die unerwünschte Frucht der Liebe abtreiben zu lassen, der Liebe? ach, war es Liebe? war es nicht nur Zweisamkeit, Verzweiflung der in die Welt Geworfenen, das warme Mensch-bei- Mensch-Liegen? und das nah-fremde Wesen in ihrem Leib, war es nicht nur Frucht der Gewohnheit, der Gewöhnung an den Mann, seine Umarmung, sein Eindringen, Frucht des kleinen Ausgehaltenseins, Frucht der Furcht, des Nichtalleinbestehenkönnens, die wieder neue Furcht gezeugt hatte,wieder Furcht gebären wollte? Carla sah die Mutter fischgesichtig, flunderhäuptig, kalt fischig abweisend, ihre Hand mischte mit dem kleinen Löffel Kaffee und Rahm und war wie die Flosse eines Fisches, die ein wenig zitternde Flosse eines bedauernswerten Fisches in einem Zimmeraquarium, so sah es Carla, war es verzerrende Vision? war es das wahre Gesicht der Mutter? ein anderes wohl hatte sich über Carlas Wiege gebeugt, und erst dann, später, viel später, als nichts im Kleinen zu sorgen und zu tun war, war der Fisch durch die Haut getreten, das Flunderhaupt, und Carlas Gefühl, das sie hergetrieben hatte, die Mutter zu sehen, ein Zueinanderreden zu versuchen, starb, als sie Frau Behrends Platz im Café erreichte. Frau Behrend hatte für einen Augenblick die Empfindung, daß nicht ihre Tochter, sondern der Domturm erdrückend vor ihr stünde.
    Odysseus und Josef hatten den Turm bestiegen. Josef war außer Atem und sog die Höhenluft ein, als sie endlich nach Überwindung von bröckelnden Gemäuerstufen und steilen Leitern die oberste Bühne des Turms erreicht hatten. Das Musikköfferchen schwieg. Es war eine Sendepause eingetreten. Man hörte nur den jappenden Atem, vielleicht das müde pochende Herz des alten Dienstmannes. Sie blickten über die Stadt, über die alten Dächer, über die romanischen, gotischen, barocken Kirchen, über die Ruinen der Kirchen, über die neuerrichteten Dachstühle, über die Wunden der Stadt, die Freiflächen der gesprengten Gebäude. Josef dachte, wie alt er geworden sei, immer hatte er in dieser Stadt gelebt, nie war er verreist gewesen, bis auf den Ausflug in den Argonnerwald und zum Chemin-des-Daines, er hatte immer nur die Koffer der Leute, die verreisten, getragen, doch im Argonnerwald hatte er ein Gewehr getragen und am Chemin-des-Dames Handgranaten, und vielleicht, das hatte er sich damals im Unterstand gedacht, während einer Todesstunde, während des Trommelfeuers, vielleicht schoß er auf Reisende und bewarf Reisende mitExplosivstoffen, Leute, die ihm zu Hause als fremde Reisende ein gutes Trinkgeld gegeben hätten, warum also verbot es die Polizei nicht, daß er schoß und mit Würfen mordete? es wäre so einfach gewesen, er hätte gehorcht: Krieg polizeilich verboten; aber die waren ja verrückt, alle waren sie verrückt, selbst die Polizei war verrückt geworden, duldete das Morden, ach, man durfte nicht denken, Josef hielt sich daran, das Trommelfeuer verging, man war des Tötens müde geworden, das Leben, die Koffer der Reisenden, die Brotzeit und das Bier waren wieder in ihre Rechte getreten, bis alle zum zweiten Mal verrückt wurden, es war wohl eine Krankheit, die immer wiederkehrte, die Pest hatte den Sohn erwischt, sie hatte ihm den Sohn genommen, und für heute hatte sie ihm einen Neger gegeben, einen Neger mit einem sprechenden und musizierenden Koffer, und nun hatte ihn der Neger auf den Domturm geschleppt, noch nie war Josef auf dem Turm gewesen; auf den Einfall, den Turm zu besteigen, konnte auch nur ein Neger kommen. ›Er ist doch ein sehr fremder Herr‹, dachte Josef, während er blinzelnd in die Ferne blickte. Er fürchtete sich sogar ein wenig vor Odysseus, und er überlegte ›was tue ich, wenn der schwarze Teufel mich plötzlich hin unterwerfen will?‹ Ihm schwindelte vor soviel Denken und vor soviel Weite. Odysseus blickte zufrieden über die Stadt. Er stand oben. Sie lag unter ihm. Er wußte nichts von der alten Geschichte der Stadt, er wußte nichts von Europa, aber er wußte, daß dies eine Hauptstadt der weißen Leute war, eine Stadt, aus der sie gekommen waren und dann Orte wie New York gegründet hatten. Die Black-Boys waren aus dem Wald gekommen. War hier nie Wald gewesen, immer nur Häuser?

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