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Tauben im Gras - Koeppen, W: Tauben im Gras

Tauben im Gras - Koeppen, W: Tauben im Gras

Titel: Tauben im Gras - Koeppen, W: Tauben im Gras Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Koeppen
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sich mit schlechtem Gewissen von dem Speisetisch und schritt die Umrandung des Teppichs ab, in dessen Muster Götter und Prinzen, Blumen und Fabeltiere geknüpft waren, so daß die Wollmaierei einer Illustration zu einer Schachtelgeschichte aus Tausend-und-eine-Nacht glich. Der Bodenbelag war so prächtig märchenorientalisch, so blumig mythenreich, daß der Dichter das Knüpfwerk nicht richtig querüber betreten mochte und sich, obwohl in Hausschuhen und wie ein Weiser Indiens gekleidet, respektvoll am Rande hielt. Die echten Teppiche waren neben der guten Küche der Stolz des alten von den Zerstörungen des Krieges im wesentlichen verschont gebliebenen Hauses. Edwin liebte altmodische Unterkünfte, die Karawansereien des gebildeten Europas, Betten, in denen Goethe oder Laurence Sterne gelegen, nette etwas wacklige Schreibkommoden, die vielleicht Platen, Humboldt, Her man Bang oder Hofmannsthal benutzt hatten. Er zog die von alters her wohlberufenen Gasthöfe bei weitem den neuerrichteten Palästen, den Behausungsmaschinen einer Corbusier-Architektur vor, den blinkenden Stahlrohren und bloßstellenden Glaswänden, und so geschah es, daß er auf seinen Reisen manchmal unter einer nicht funktionierenden Heizung oder zu kühlem Badewasser zu leiden hatte, Unbequemlichkeiten, die er nicht bemerken wollte, auf die aber seine große, überaus empfindliche Nase mit einem Schnupfen zu reagieren pflegte. Mr. Edwins Nase hätte Wärme und technischen Komfort dem Geruch des Holzwurmmehls in den antiken Sekretären, dem Dunst von Mottenmitteln, Menschenschweiß, Unzucht und Tränen, der aus dem Gewebe der alten Tapisserien stieg, vorgezogen. Aber Edwin lebte nicht für seine Nase und nicht für sein Wohlbehagen (obwohl er Behaglichkeit liebte, sich ihr aber niemals ganz hingeben konnte), er lebte in Zucht, in der strengen Zucht des Geistes und in den Sielen tätiger humaner Tradition, einer höchst sublimen Tradition, versteht sich, zu deren Bild undBestand auch die alten Herbergen gehörten, der Elefant, das Einhorn und die Jahreszeiten, am Rande natürlich, doch im übrigen verzehrte ihn Unruhe, denn der in der Neuen Welt geborene Dichter zählte sich (mit unbestreitbarem Recht) zur europäischen Elite, der späten und, wie immer mehr zu fürchten war, letzten des geliebten abendländischen Erdteils, und nichts empörte und verletzte Edwin mehr als der Barbarenschrei, die Genie und Größe leider nicht ermangelnde und darum nur um so erschreckendere Voraussage, der Ruf dieses Russen, des Heilig-Kranken, des Besessenen, des großen Unweisen, unweise im Sinn der aufgeklärten Griechen, wie Edwin behauptete, doch auch des Sehers und Urdichters, wie Edwin gestehen mußte (eines Dichters, den er verehrte und mied, denn er selbst fühlte sich nicht den Dämonen verbunden, sondern der hellenisch-christlichen Ratio, die Übersinnliches - in Maßen - nicht ausschloß; aber schon schienen die vertriebenen Gespenster des Grausam-Absurden wieder aufzutauchen), das Wort von der kleinen, Asien vorgelagerten Halbinsel, die nach drei Jahrtausenden der Selbständigkeit, der Frühreife, der Ungezogenheit, des Ordentlich-Unordentlichen, des Größenwahns zur Mutter Asien zurückkehren oder zurückfallen werde. War es soweit? Hatte die Zeit sich wieder erfüllt? Edwin hatte sich, von der Reise ermüdet, hinlegen wollen, aber Ruhe und Schlaf waren ihm ferngeblieben, und das Mahl, verschmäht und mit Widerwillen betrachtet, hatte ihn nicht erfrischen können. Die Stadt erschreckte ihn, die Stadt bekam ihm nicht, sie hatte zu viel durchgemacht, sie hatte das Grauen erlebt, das abgeschlagene Haupt der Medusa gesehen, frevelige Größe, eine Parade von aus ihrem eigenen Untergrund herauf gekommenen Barbaren, die Stadt war mit Feuer gestraft worden und mit Zerschmetterung ihrer Mauern, heimgesucht war sie, hatte das Chaos gestreift, den Sturz in die Ungeschichte, jetzt hing sie wieder am Hang der Historie, hing schräg und blühte, war es Scheinblüte? was hielt sie am Hang? dieKraft eigener Wurzeln? (wie unheimlich das Schlemmermahl auf dem zierlichen Tisch an diesem Ort) oder hielt sie die dünne Fessel, die sie mit allerlei Interessen verknüpfte, mit den vorübergehenden und sich widersprechenden Interessen der Sieger, die lockere Bindung an die Tagespläne der Strategie und des Geldes, der Glaube Aberglaube Afterglaube an die Einflußsphären der Diplomatie und die Positionen der Macht? nicht Historie Wirtschaft, nicht die verwirrte Glio

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