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Tauben im Gras - Koeppen, W: Tauben im Gras

Tauben im Gras - Koeppen, W: Tauben im Gras

Titel: Tauben im Gras - Koeppen, W: Tauben im Gras Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Koeppen
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Josef gegeben hatte, König Odysseus, aus dem Notizbuch des Dienstmannes, aus dem abgegriffenen Heft, in das Josef seine Botengänge und seine Einnahmen eingetragen hatte. Odysseus rannte. Er rannte um die Kirche herum. Die Meute rückte nach. Sie sahen Josef am Boden liegen und sahen das Blut auf seiner Stirn. »Der Nigger hat den alten Josef totgeschlagen!« Da wimmelte der Platz voll Gestalten, die aus Kellern, Verschlagenund Gemäuer kamen, jeder im Viertel hatte ihn gekannt, den alten Josef, den kleinen Josef, er hatte hier gespielt, er hatte hier gearbeitet, er war in den Krieg gezogen, er hatte wieder gearbeitet, und jetzt war er ermordet worden: er war um seinen Lohn ermordet worden. Sie umstanden ihn: eine graue Wand armer und alter Leute. Im Musikkasten neben Josef erklang ein Negro-Spiritual. Marion Anderson sang, eine schöne, volle und weiche Stimme, eine Vox humana, eine Vox angelica, Stimme eines dunklen Engels; es war, als ob die Stimme den Erschlagenen versöhnen wolle. ›Ich muß weg‹, dachte Susanne, ›ich muß schleunigst hier weg, ich muß weg bevor die Polente kommt, die MP wird kommen, und die Funkstreife wird kommen.‹ Sie drückte ihre rechte Hand gegen die Bluse, wo sie das Geld fühlte, das sie Odysseus aus der Tasche gezogen hatte. Warum hab ich's nur getan‹, dachte sie, ›ich hab doch nie so etwas getan, die haben mich schlecht gemacht, die Schweine bei Alexander haben mich schlecht gemacht, ich wollte mich rächen, ich wollte mich an den Schweinen rächen, aber man rächt sich immer nur an den Falschen.‹ Susanne schritt durch die graue Wand der Alten und Armen, die sich vor ihr öffnete. Die Alten und Armen ließen Susanne passieren. Sie gaben Susanne die Mitschuld an den Ereignissen, eine Frau war immer bei einem Unglück dabei, aber sie waren keine Psychologen und keine Kriminalisten, sie dachten nicht ›cherchez la femme‹, sie dachten ›auch sie ist arm, auch sie wird alt werden, sie gehört zu uns‹. Erst als die Wand sich hinter Susanne wieder geschlossen hatte, schrie ein Bengel »Ami-Hur!« Ein paar Frauen schlugen das Kreuz. Ein Priester kam und beugte sich über Josef. Der Priester legte sein Ohr auf Josefs Brust. Der Priester war grauhaarig, und sein Gesicht war müde. Er sagte: »Er atmet noch.« Aus dem Spital kamen vier dienende Brüder mit einer Bahre. Die dienenden Brüder sahen arm und wie gescheiterte Verschwörer in einem klassischen Drama aus. Sie legten Josef auf die Bahre. Sie trugen die Bahre in dasHeiliggeistspital hinüber. Der Priester folgte der Bahre. Hinter dem Priester ging Emmi. Sie zog Hillegonda hinter sich her. Man ließ Emmi und Hillegonda in das Spital gehen. Man dachte wohl, daß sie zu Josef gehörten, und dann vernahm man die Sirenen, die Sirenen der Funkstreife und der Militärpolizei. Von allen Seiten näherten sich die Sirenen dem Platz.
    Es war der Moment, die Stunde am Abend, da die Radfahrer durch die Straßen sausen und den Tod verachten. Es war die Zeit der niederfallenden Dämmerung, die Zeit des Schichtwechsels, des Ladenschlusses, die Stunde der Heimkehr der Werktätigen, die Stunde des Ausschwärmens der Nachtarbeiter. Die Polizeisirenen kreischten. Die Überfallwagen drängten sich durch den Verkehr. Die blauen Lampen verliehen ihrem Rasen einen geisterhaften Schein: Gefahr verkündende Sankt-Elmsfeuer der Stadt. Philipp liebte die Stunde. In Paris war es die heure bleue, die Stunde des Träumens, eine Spanne relativer Freiheit, der Augenblick des Freiseins von Tag und Nacht. Die Menschen waren freigelassen von ihren Werkstätten und Geschäften, und sie waren noch nicht eingefangen von den Ansprüchen der Gewohnheit und dem Zwang der Familie. Die Welt hing in der Schwebe. Alles schien möglich zu sein. Für eine Weile schien alles möglich zu sein. Aber vielleicht war dies eine Einbildung von Philipp, dem Außenstehenden, der von keiner Arbeit zu keiner Familie heimkehrte. Der Einbildung würde die Enttäuschung auf dem Fuße folgen. Philipp war an Enttäuschungen gewöhnt; er fürchtete sie nicht. Der Abendschein verklärte. Der Himmel brannte in südlichen Farben. Er war ein Ätna-Himmel, ein Himmel wie über dem alten Theater in Taormina, ein Feuer wie über den Tempeln in Agrigent. Die Antike hatte sich erhoben und lächelte einen Gruß über die Stadt. Die Konturen der Gebäude standen wie ein scharfer Stich vor diesem Himmel, und die Sandsteinfassade der Jesuitenkirche, an der Philipp vorüberging,war von

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