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Tauben im Gras - Koeppen, W: Tauben im Gras

Tauben im Gras - Koeppen, W: Tauben im Gras

Titel: Tauben im Gras - Koeppen, W: Tauben im Gras Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Koeppen
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tänzerischer Anmut, sie war ein Teil des alten Italiens, sie war human, klug und von karnevalistischer Ausgelassenheit. Wohin aber hatten Humanität und Klugheit und schließlich noch Ausgelassenheit geführt? Das Abendecho rief das Unheil des Tages aus RENTNER WÄHLTE DEN TOD, SOWJETS BEISSEN AUF GRANIT, WIEDER EIN DIPLOMAT VERSCHWUNDEN, DEUTSCHE WEHRVERFASSUNG KOMMT, EXPLOSION LIESS HÖLLE SEHEN . Wie ernst und wie dumm das war! Ein Diplomat war übergelaufen, er war zum Feind seiner Regierung übergelaufen, VERRAT AUS IDEALISMUS . Die offizielle Welt bemühte sich noch immer, in hohlen Phrasen zu denken, in längst jedes Begriffes baren Schlagworten. Sie sahen feste, unverrückbare Fronten, abgesteckte Erdstücke, Grenzen, Territorien, Souveränitäten, sie hielten den Menschen für ein Mitglied einer Fußballmannschaft, der sein Leben lang für den Verein spielen sollte, dem er durch Geburt beigetreten war. Sie irrten: die Front war nicht hier und nicht dort und nicht nur bei jenem Grenzpfahl. Die Front war allüberall, ob sichtbar oder unsichtbar, und ständig wechselte das Leben seinen Standort zu den Milliarden Punkten der Front. Die Front ging quer durch die Länder, sie trennte die Familien, sie lief durch den Einzelnen: zwei Seelen, ja, zwei Seelen wohnten in jeder Brust, und mal schlug das Herz mit der einen und mal mit der anderen Seele. Philipp war nicht wetterwendischer als andere; im Gegenteil, er war ein Sonderling. Aber selbst er hätte mit jedem Schritt und mehr als tausendmal am Tag seine Meinung zu den Verhältnissen in der Welt ändern können. ›Überschaue ich es denn‹, dachte er, ›kenne ich die Rechnung der Politik? die Geheimnisse der Diplomaten? ich freue mich, wenn einer zum andern flieht und die Karten etwas durcheinander bringt, die Macher werden dann das Gefühl haben, das wir haben, das Gefühl der Hilflosigkeit, kann ich die Wissenschaft noch verstehen? kenne ich die letzte Formel des Weltbildes, kann ich sie lesen?‹ Alle, die da auf der Straße gingen, radelten,fuhren, Pläne machten, Sorgen hatten oder den Abend genossen, alle wurden sie ständig belogen und betrogen, und die Auguren, die sie belügen und betrügen, waren nicht weniger blind als die einfachen Leute. Philipp lachte über die Dummheit der politischen Propaganda. Er lachte über sie, obwohl er wußte, daß sie ihn das Leben kosten konnte. Aber die andern auf der Straße? Lachten sie auch? War ihnen das Lachen vergangen? Hatten sie im Gegensatz zu Philipp keine Zeit zu lachen? Sie erkannten nicht, wie schlecht das Futter war, das man ihnen vorwarf, und wie billig man sie kaufen wollte. ›Ich bin leidlich immun gegen Verführungen‹, überlegte Philipp, ›und doch, ich höre einmal hier ein Wort, das mir gefällt, und manchmal von der anderen Seite einen Ruf, der noch besser klingt, ich spiele immer die lächerlichen Rollen, ich bin der alte Tolerante, ich bin für das Anhören jeder Meinung, wenn man schon auf Meinungen hören will, aber die ernsten Leute regen sich nun auf beiden Seiten auf und brüllen mich an, daß meine Toleranz gerade die Intoleranz fördere, es sind feindliche Brüder, beide intolerant bis auf die Knochen, beide einander gram und nur darin sich einig, daß sie meinen schwachen Versuch, unbefangen zu bleiben, begeifern, und jeder von ihnen haßt mich, weil ich nicht zu ihm gehen und gegen den andern bellen will, ich will in keiner Mannschaft spielen, auch nicht im Hemisphärenfußball, ich will für mich bleiben.‹ Es gab noch Hoffnung in der Welt: VORSICHTIGE FÜHLER, KEIN KRIEG VOR DEM HERBST -
    Die Lehrerinnen aus Massachusetts gingen in Zweierreihen wie eine Schulklasse durch die Stadt. Die Klasse war auf dem Wege in das Amerikahaus. Sie genoß artig den Abend. Die Lehrerinnen wollten den Vortrag von Edwin hören und vorher noch etwas vom Leben der Stadt sehen. Sie sahen nicht viel. Sie sahen so wenig vom Leben dieser Stadt, als die Stadt vom Leben der Lehrerinnen sah. Nichts. Miss Wescott hatte die Führung übernommen. Sie schritt der Klassevoran. Sie führte die Kolleginnen nach dem Stadtplan des Reisehandbuchs. Sie führte sie sicher und ohne Umwege. Miss Wescott war verstimmt. Kay war verschwunden. Sie hatte sich am Nachmittag aus dem Hotel entfernt, um sich die Auslagen der Läden anzusehen. Sie war zur verabredeten Stunde nicht zurückgekehrt. Miss Wescott machte sich Vorwürfe. Sie hätte Kay hindern müssen, allein in die fremde Stadt zu gehen. Kannte man die Leute? Waren es

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