Tauben im Gras - Koeppen, W: Tauben im Gras
ein schwarzes Symbol der Niederlage, der Schmach des Besiegtseins, waren sie nicht das Zeichen der Erniedrigung und der Schande? Noch einen Augenblick lang zögerte die Menge. Der Führer fehlte. Ein paar Burschen brachen als erste auf. Dann folgten sie alle, folgten mit roten Gesichtern, schwer atmend und erregt. Christopher wollte geradezum Wagen gehen. Er fragte: »Was ist los? Warum rennen sie alle?« Der Mann, mit dem Christopher Rettich gegessen hatte, sagte: »Die Nigger haben ein Kind umgebracht. Ihre Nigger!« Er stand auf und sah Christopher herausfordernd an. Christopher rief: »Ezra!« Er lief mit der Menge auf den Platz und rief: »Ezra!« Sein Ruf ging unter im Geheul der erregten Stimmen. Er konnte sich zu seinem Auto nicht durchdrängen. Er dachte ›warum ist keine Polizei auf dem Platz?‹ Der Eingang zum Negerclub war unbewacht. Hinter den großen Fensterscheiben leuchteten rote Vorhänge. Man hörte Musik. Die Musik des Herrn Behrend spielte Hailelujah. »Schluß mit der Niggermusik«, schrie die Volksstimme. »Schluß, Schluß«, rief Frau Behrend. Die beiden kahlköpfigen Geschäftsmänner stützten sie. Frau Behrend schwankte ein wenig, aber ihre Gesinnung war vorzüglich. Man mußte sie stützen. Man mußte die gute Gesinnung stützen. In einem Auflauf weiß man nie, wer den ersten Stein wirft. Wer den ersten Stein wirft, weiß nicht, warum er es tut, es sei denn, man habe ihn dafür bezahlt. Aber einer wirft den ersten Stein. Die andern Steine fliegen dann schnell und leicht. Die Fenster des Negerclubs zerbrachen unter den Steinen.
›Alles zerbricht‹, dachte Philipp, ›wir können uns nicht mehr verständigen, nicht Edwin redet, der Lautsprecher spricht, auch Edwin bedient sich der Lautsprechersprache, oder die Lautsprecher, diese gefährlichen Roboter, halten auch Edwin gefangen: sein Wort wird durch ihren blechernen Mund gepreßt, es wird zur Lautsprechersprache, zu dem Weltidiom, das jeder kennt und niemand versteht.‹ Immer wenn Philipp einen Vortrag hörte, mußte er an Chaplin denken, jeder Redner erinnerte ihn an Chaplin. Er war auf seine Weise ein Chaplin. Im ernstesten und traurigsten Vortrag mußte Philipp über Chaplin lachen. Chaplin bemühte sich, seine Gedanken zu äußern, Erkenntnisse zu vermitteln, freundliche und weise Worte in das Mikrophonzu sprechen, aber die freundlichen und weisen Worte stürzten wie Fanfarenstöße, wie laute Lügen und demagogische Parolen aus den Schalltrichtern. Der gute Chaplin am Mikrophon hörte nur seine Worte, er hörte die freundlichen und weisen Worte, die er in das Tonsieb sprach, er hörte seine Gedanken, er lauschte seinem Seelenklang, aber er vernahm nicht das Brüllen der Lautverstärker, es entgingen ihm ihre Simplifikationen und ihre dummen Imperative. Am Ende seiner Ansprache glaubte Chaplin sein Auditorium zur Besinnlichkeit geführt und es lächeln gemacht zu haben. Er war peinlich überrascht, wenn die Leute aufsprangen, Heil riefen und sich zu prügeln begannen. Edwins Zuhörer würden sich nicht prügeln. Sie schliefen. Die Leute, die sich vielleicht gerauft hätten, schliefen. Wer nicht schlief, würde sich auch nicht raufen. Es waren die Sanften, die nicht schliefen. Bei einem andern Chaplin hätten die Wilden nicht geschlafen, und die Sanften wären eingenickt. Die Wilden hätten dann die Friedfertigen unsanft geweckt. In Edwins Vortrag würde niemand geweckt werden. Der Vortrag würde völlig folgenlos bleiben. Als erster war Schnakenbach eingeschlafen. Befinde hatte ihn von den Mikrophonen weggeführt. Er hatte Schnakenbach zwischen sich und die Philosophieklasse des Priesterseminars gesetzt. Er dachte ›weder sie noch ich können ihm helfen, wir erreichen ihn nicht‹. Gab es Schnakenbach überhaupt? Für Schnakenbach war der Saal, waren der vorlesende Dichter und seine Zuhörer ein nicht zu rechter Reaktion kommender chemisch-physikalischer Prozeß. Schnakenbachs Weltbild war unmenschlich. Es war völlig abstrakt. Seine Schulmeisterausbildung hatte Schnakenbach noch ein äußerlich intaktes Weltbild, das Weltbild der klassischen Physik, vermittelt, in der alles schön kausalgesetzlich zuging und in der Gott in einer Art Austragsstübchen, belächelt, aber geduldet, wohnte. In dieser Welt hätte sich auch noch Schnakenbach einrichten können. Seine Jahrgangskollegen richteten sich ein. Sie fielen im Krieg undhinterließen Frauen und Kinder. Schnakenbach wollte nicht in den Krieg ziehen. Er war unverheiratet. Er fing
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