Tausche Brautschuh gegen Flossen
Liegeplatz und immer einen Strandkorb – die waren damals noch
mietfrei. Da meine Eltern seit eh und je recht kontaktfreudig sind, lernten wir
halb Ostdeutschland kennen.
Rügen.
Alleen führen
schnurgerade durch das Flachland. Die Sonne blinzelt durch die Zweige der Bäume.
Weiße Dünen und blaues Wasser schimmern hinter den Nadelwäldern. Die Bauernhäuser
in den Ortschaften sind winzig und mit Stroh gedeckt. Storchennester thronen in
Baumwipfeln oder auf Strommasten. Als ich das Fenster herunterlasse, rieche ich
das Salzwasser und höre das Rauschen der Wellen sowie das Pfeifen des von der See
kommenden Windes.
Ich schalte
den CD-Player an. Er spielt einen Mix aus Partymusik, der schon einige Jahre alt
ist und Oldschool-Charakter hat. Lukas und ich erinnern uns daran, wo wir waren
und was wir getan haben, als diese Lieder zum ersten Mal liefen.
›Turkish Bazar‹ beispielsweise,
ein Track des französischen Produzenten Emanuel Top, hatte Lukas vor einem Diskobesuch
eingelegt. Damals lebten wir erst einige Monate zusammen in Lukas’ kleiner Wohnung.
Ich hatte mich noch nicht an die dünnen Wände gewöhnt und ihm waren sie egal, weshalb
er die Musik aufdrehte. Er saß im Wohnzimmer auf der Couch und blätterte in einer
Zeitung, während ich im Flur vor dem großen Spiegel stand und mich zurechtmachte.
Ich erschrak fürchterlich, als die fuchsteufelswilde Nachbarin, die mir jeden Freitag
die Hausordnung unter die Nase hielt, beinahe die Tür einhämmerte und über die nächtliche
Lärmbelästigung krakelte.
Oder ›Hale Bopp‹ von Der Dritte
Raum. Das Stück erschien 1998 und war nach dem Kometen benannt, der im Vorjahr tagelang
am Himmel zu sehen gewesen war. Dieses Lied hatte mir Lukas zum ersten Mal auf einer
längeren Autofahrt vorgespielt. Danach durfte er es gar nicht mehr abschalten. Ich
wollte es wieder und wieder hören.
Ich mag es, mit meinem Mann im Auto
unterwegs zu sein. Eigentlich bin ich kein guter Beifahrer, da ich lieber selbst
hinter dem Steuer sitze, doch bei ihm gelingt es mir, abzuschalten und die Klappe
zu halten. Beim Fahren legt Lukas eine Ruhe an den Tag, die er sich durch nichts
nehmen lässt. Weder durch einen 20 Kilometer langen Stau noch durch einen Greis, der eine vierspurige
Straße diagonal überquert und auf dem Mittelstreifen stehen bleibt, um hupenden
LKWs mit seinem Stock zu drohen.
Viele unserer besten Gespräche haben
auf einer Fahrt nach Irgendwo stattgefunden, und auch jetzt plaudern wir seit Stunden.
In manchen Minuten scheint die Stimmung zwischen uns so harmonisch, dass das, was
geschehen ist, genauso gut einer meiner verrückten Träume gewesen sein könnte. Es
ist fast, als hätte es Christoph nie gegeben.
Einmal werde ich an ihn erinnert,
denn mein Mobiltelefon wartet mit einer Nachricht von ihm. Er macht sich Sorgen,
weil er schon so lange nichts von mir gehört hat. Als Lukas in einer Tankstelle
ist, schreibe ich zurück, dass ich für ein paar Tage verreist bin und mich melde,
wenn ich zu Hause bin. Bei der Antwort fühle ich mich mies. Ich will nicht mehr
an Christoph denken. Zwei Männer im Kopf sind einer zu viel.
Am späten Nachmittag erreichen wir Binz. Wir tuckern
die Straße am Strand ab und schauen die Hotels an. Als wir alle gesehen haben, wendet
Lukas und fährt zurück zu dem Gästehaus, das uns am besten gefallen hat. Wir bekommen
ein Zimmer im zweiten Stock mit Blick auf die Dünen und das Wasser. So schnell,
wie wir drin sind, sind wir auch wieder draußen, denn ich drängele und kann es,
ganz wie in meiner Kindheit, nicht abwarten, zum Meer zu kommen.
Noch nie bin
ich im Herbst an der Ostsee gewesen. Es ist ungewohnt, wie meine Stiefel im Sand
einsacken. Bald setzen wir uns in einen Strandkorb, der Hugo heißt. Hugo ist hellgrün
und ziemlich neu. Wir müssen den halben Tagespreis bezahlen, wenngleich es nur noch
eine Stunde bis 18 Uhr ist. Hugo ist es wert, denn in ihm ist es wie in einem Kino.
Auf der Leinwand sehen wir die klaren Linien von Strand, Wasser und Himmel. Mal
wabert eine Wolke ins Bild und wieder hinaus, mal laufen Nordic Walker vorbei. Möwen
stelzen am Ufer umher oder fliehen vor zwei Hunden, die beim Sichten der Vögel taub
werden für die Befehle des Herrchens.
»Sollen wir schauen, was es hier
für Restaurants gibt?«, fragt Lukas, als die Sonne gesunken ist.
Ich schüttele den Kopf und rekele
mich auf meiner grün-weiß-gestreiften Hugo-Bank. „Ich würde viel lieber hier bleiben.“
»Ich bekomme aber
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