Tausche Brautschuh gegen Flossen
Terrasse
umgibt uns das Panorama einer Landschaft, die mich an Südamerika erinnert und die
ich nirgends in Europa vermutet hätte.
Etwas oberhalb des ›La Vista‹ folgen
wir einem Treppenpfad. Er führt uns an den letzten Häusern des Dorfes vorüber und
endet am Eingang des Garajonay-Nationalparks, der zum UNESCO Welterbe gehört. Dahinter
beginnt der Lorbeerwald – ein Dschungel, der von zerklüfteten Schluchten durchzogen
wird. Von den Baumspitzen senkt sich Nebel wie ein Schleier auf den von Moosen und
Farnen bewachsenen Boden. Flechtenbärte hängen von den Zweigen. Sonnenstrahlen tasten
über das dichte Gras kleiner Lichtungen. Hinter einer Kapelle finden wir einen Rastplatz,
an dem wir pausieren, um die Natur auf uns wirken zu lassen. Ich fühle mich eigenartig,
seltsam beseelt und wie verzaubert. Christoph lehnt sich gegen die Bank. Er hat
die Arme verschränkt und die Augen geschlossen und scheint ein stilles Mantra zu
sprechen – ein Anblick, der meine Stimmung nur verstärkt.
»Kann es sein, dass du mich gerade
ansiehst?«, murmelt er, ohne die Augen zu öffnen.
Ich lache leise und antworte: »Sein
kann es.«
Wasserfälle plätschern am Wegesrand.
Zwei Brücken, die einen abenteuerlich morschen Eindruck machen, überqueren einen
Bachlauf. Hinter ihnen wird der Weg steil und führt über Naturtreppen zu einem Aussichtspunkt,
der bereits auf über 1.000 Metern Höhe liegt.
Während Christoph keine Anzeichen
von Erschöpfung zeigt, schnaufe ich ziemlich, als wir eine halbe Stunde später auf
dem Alto de Garajonay ankommen. Bei Sonnenschein und klarer Sicht blicken wir auf
die Nachbarinseln El Hierro, La Palma und Teneriffa. Sowohl die Zeit als auch der
Ort geraten in Vergessenheit. Andere Wanderer kommen und gehen, ohne dass ich sie
wirklich wahrnehme. Wir sitzen auf unseren Jacken, reden oder schweigen oder hängen
unseren Gedanken nach. Nach zwei Stunden macht mich Christoph auf eine Wolkenfront
aufmerksam und hält es für besser, dass wir den Rückweg antreten.
Auf Höhe der Kapelle beginnt es
so plötzlich und heftig zu regnen, dass Christoph und ich durchnässt sind, bevor
wir die Jacken übergezogen haben. Mit der Wetteränderung erfährt auch die Stimmung
im Wald eine eigenartige Wende, dies erst recht, als der Regen sich legt. Dicke
Wassertropfen hängen an Blättern. Der Nebel ist dichter geworden und windet sich
in Schwaden um knorrige Baumstämme. Die Lufttemperatur ist um einige Grad gesunken,
doch nicht nur deshalb fröstele ich und mustere das Grün zu beiden Seiten des Pfades
halb argwöhnisch, halb verzückt, aber jederzeit darauf gefasst, einen Elf zu sehen.
Über eine kurvige Höhenstraße entlang der Westküste gelangen wir nach
Valle Gran Rey – dem Tal des großen Königs. Das einstige Aussteigerparadies besteht
aus mehreren Ortschaften und ist das touristische Zentrum der Insel, doch selbst
in diesem Sinn kaum mit den Städten auf Teneriffa zu vergleichen. Eingeschlossen
von Felswänden und dem Meer finden sich hier Obstplantagen, ruhige Badestrände und
Hotels, in denen nichts außer dem Frühstück und einer großen Portion Seelenfrieden
inklusive ist.
In La Playa beziehen wir zwei Zimmer
in der, wie Christoph sagt, legendären ›Casa Maria‹. Warum sie legendär ist, erfahre
ich später am Abend, als wir auf der Terrasse sitzen, die sich mehr und mehr mit
Gästen füllt.
Auch am Strand versammeln sich Leute,
viele haben Buschtrommeln dabei. Als die Sonne zu sinken beginnt, schlagen sie ihre
Trommeln und hören nicht auf, als sie längst am Horizont verschwunden ist. Feuertänzer
gesellen sich dazu. Es ist ein atemberaubendes Spektakel.
Lukas wäre begeistert, überlege
ich und blinzele ein paar Tränen fort. Sie sind hartnäckig, aber ich besiege sie.
Ich will nicht traurig sein. Es gibt keinen Grund dafür, denn ich bin an einem wunderbaren
Ort in Gesellschaft eines wunderbaren Mannes. Betrachtet man die Sache, wie sie
ist, dann geschieht all das mit Lukas’ Segen, weshalb jede Melancholie ironisch
wäre.
Natürlich besitze ich keinen Freibrief
und noch immer ein Gewissen. Zwar ist es von Stunde zu Stunde leiser geworden, doch
es ist da und scheucht so manchen sich einschleichenden Gedanken aus meinem Kopf.
Einen Gedanken, wie den, Christoph
zu küssen.
Wie kann ich das nicht wollen?
Bei all dem Auf und Ab der vergangenen
Monate bin ich inzwischen davon überzeugt, dass ich nicht zu einer Minderheit gehöre.
Stattdessen glaube ich, dass jeder Mensch
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