Tausend und ein Tag - Orientalische Erzählungen
Angesicht kommen und befahl ihm, er sollte seine Geschichte erzählen; der aber begann solcherart:
»Es liegt in Indien eine Stadt am Meere, mit Namen Dahab, und sie ist einem reichen und großen Götzendiener Untertan, der den Löwen anbetet. Dieser Herrscher hatte aber an seinem Hofe verschiedene Künstler von großer Vortrefflichkeit,und unter andern einen Goldschmied, dem man um der großen Fertigkeit in seiner Kunst willen keinen andern in der ganzen Welt gleichstellen konnte. Und weil er stets ein neues und wunderbares Werk zu machen pflegte, kam sein Gebieter einst auf den Gedanken, einen großen goldenen Löwen von ihm herstellen zu lassen. Und er rief ihn vor sich und ließ ihm zehntausend Lasten Goldes des Landes reichen, aus denen er ihm einen sehr schönen Löwen zu machen auftrug. Als nun der Goldschmied eine so große Menge Goldes erhalten hatte, richtete er seine Gedanken auf nichts anderes, als einen Löwen von so großer Vortrefflichkeit herzustellen, daß niemand etwas an ihm aussetzen könnte. Nachdem er sich dies vorgenommen hatte, schuf er in einem Zeiträume von zehn Monaten einen Löwen, dem es, um lebendig zu sein, nur an Atem fehlte; und da er ein ungeheures Gewicht hatte, machte er ihm einige Räder unter die Pfoten, so daß er leicht von zehn Männern, wohin man wollte, gezogen werden konnte. Dieses Werk gefiel dem Könige seiner Vortrefflichkeit wegen gar sehr, und jeder, der es sah, konnte sich nicht genugsam darüber verwundern und kaum glauben, daß es von Menschenhand hergestellt war. Der Herr wollte nun die hohe Kunst des Goldschmieds nicht unbelohnt lassen, darum setzte er ihm ein Jahresgeld von tausend und mehr Goldstücken aus. Solche Freigebigkeit des Herrn aber erweckte den lebhaften Neid vieler Goldschmiede, die in der Stadt waren; die gingen nun oft nach dem Löwen, um ihn zu betrachten und, wenn sie irgendeinen Fehler des Künstlers entdecken könnten, Widerspruch zu erheben, um sich damit den Dank des Gebieters zu erwerben. Unter diesen war einer, der mit hohem und spitzfindigem Verstände begabt war, und da er nichts Tadelnswertes an dem Löwen finden konnte,dünkte es ihm, daß er bei seiner Größe und seinem Umfange keine zehntausend Lasten Goldes enthalten könnte; solches schien ihm eine gute Gelegenheit zu bieten, den Goldschmied seines Einkommens zu berauben und sich den Dank seines Herrn zu erwerben. Mit diesen Gedanken ging er stets um; aber weil er nicht glaubte, daß der Herr, um sich von dem Diebstahle des Goldschmieds zu überzeugen, das Tierbild, das so vollkommen war, in Stücke schlagen ließe, war er sehr betrübt; und soviel er auch nachdachte, wußte er doch nicht, auf welche Weise man soviel Gold wägen könnte. Eines Tages nun, als er sich mit seinem Weibe unterhielt, sagte er, daß niemand ein Mittel, den Löwen zu wägen, wüßte, wodurch man den Herrn von dem begangenen Diebstahl des Goldschmieds überzeugen und wahrlich das ihm ausgesetzte Jahresgeld und den Dank des Herrn erwerben könnte. Wie die Frau solche Worte hörte, antwortete sie ihrem Gatten: »Ich bin der festen Überzeugung, daß ich dir dieses Geheimnis bald offenbaren kann, wenn du mich handeln läßt!« Hierauf sagte er, wenn sie solches zuwege brächte, würden sie sicherlich ein frohes und glückliches Leben führen können. So richtete sie es denn ein, mit dem Weibe des Goldschmieds, mit dem sie oft zusammenzukommen pflegte, eine enge Freundschaft zu schließen, indem sie glaubte, auf diese Weise ihre Absicht leichter erreichen zu können. Und sie traf sie oft beim Gebete vor dem Löwen; und als sie sich mit ihr über verschiedene Dinge unterhielt, sagte sie ihr, wie glücklich sie sich schätzen müßte, das Weib eines Mannes zu sein, der dem Gebieter seines großen Wertes halber so teuer wäre; hierauf bewunderte sie die Schönheit des Löwen und sprach zu ihr: »Eine einzige Sache habe ich an dem ausgezeichneten Werke, das in jeder Beziehung von hoherVollendung ist, auszusetzen; denn daß man dies Tier nicht wägen kann, scheint mir ein Mangel zu sein, und wenn es diesen nicht hätte, ließe sich wahrlich unter unserm Himmel kein Werk finden, das man ihm vergleichen könnte!« Diese Worte hatten des Goldschmieds Weib ein wenig verdrossen, da es nicht hören mochte, daß der von ihrem Mann geschaffene Löwe einen Fehler hätte, und es antwortete der Frau, wenn ihm auch die andern solchen Vorwurf machten, wäre sie nichtsdestoweniger überzeugt, daß ihr Gatte ihn auch zu wägen
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