Tausendschön
Gedanken kehrten zu dem Haus auf Ekerö zurück und zu der getrockneten Blume, die einsam eine der Schlafzimmerwände zierte.
Johanna Ahlbin folgte Fredrikas Blick und versuchte, die Tätowierung zu verbergen, indem sie die Uhr verschob. Doch Fredrikas Neugier war bereits geweckt.
» Was bedeutet Ihnen das Tausendschön?«
» Bloß eine Erinnerung.« Johanna Ahlbins Stimme klang belegt, und ihr Blick war vage. » Karolina hat dieselbe«, fügte sie nach einer Weile hinzu.
» Woran erinnert es Sie?«
» An unsere Schwesternschaft.«
War die Schwesternschaft so belastet, dass ihr Symbol von einer Armbanduhr verdeckt werden musste?, fragte sich Fredrika.
Alex brach das Schweigen. » Frau Ahlbin, Sie haben gesagt, dass Sie fünf Wochen Urlaub genommen hatten, um nach Spanien zu reisen, dass aber Karolinas Pläne dazwischengekommen seien. Was ist denn genau geschehen?«
Mit einer Geschmeidigkeit, wie sie sonst nur Balletttänzerinnen besaßen, richtete Johanna Ahlbin sich auf. » Sie wollen wissen, warum ich Karolina für tot erklären ließ, obwohl ich doch wusste, dass sie es nicht war?«
» Sehr gern.«
» Da kann ich Ihnen eine einfache Antwort geben: weil sie mich darum gebeten hat.«
» Wer hat Sie darum gebeten?«
» Karolina.«
Wieder Schweigen.
» Warum?«
Zum ersten Mal seit Beginn des Verhörs zeigten sich Tränen in Johanna Ahlbins Augen. Fredrika fühlte fast Erleichterung, als sie es sah.
» Weil sie sich in eine derart teuflisch vertrackte Lage gebracht hatte, dass sie buchstäblich von der Erdoberfläche verschwinden musste, und zwar sofort. Zumindest drückte sie es so aus.«
» Hat sie näher erklärt, was passiert war?«
» Nein, mein Gott, ich habe sie wirklich gefragt. Wieder und wieder. Aber sie weigerte sich, mir eine Antwort zu geben, sie sagte nur, die Vergangenheit hätte sie eingeholt, und sie hätte jetzt begriffen, was getan werden müsste. Sie legte mir ihren Plan dar: Wie sie sterben würde, ohne wirklich zu sterben. Meine Aufgabe war es, in ihre Wohnung zu kommen, den Krankenwagen dorthin zu rufen und diese Drogenabhängige als meine Schwester zu identifizieren. Und dann das Land zu verlassen. Also bin ich nach Spanien gefahren.«
» Hat die Frau denn noch gelebt, als Sie in die Wohnung kamen?«
» Es sah nicht so aus, aber offensichtlich war es so. Die Notärzte haben ja versucht, sie zu retten.«
» Das muss Ihnen ganz schön Angst gemacht haben.«
Johanna Ahlbin antwortete nicht.
» Warum haben Sie ihr überhaupt dabei geholfen, ihren eigenen Tod zu inszenieren, wenn sie doch nicht offenbaren wollte, wofür?«, fragte Alex.
Ein schwaches Lächeln schlich sich auf Johanna Ahlbins versteinertes Gesicht. » Das Band zwischen Schwestern kann man unendlich lang dehnen, aber es reißt nicht. Es ist mir nie in den Sinn gekommen, dass es das Mittsommerereignis war, auf das sie sich bezog, als sie davon sprach, dass die Vergangenheit sie eingeholt hätte. Als ich dann aber begriff, dass sie genau das meinte, beschloss ich, lieber noch ein wenig länger in Spanien zu bleiben.«
Fredrika war unsicher und packte ihren Stift noch fester. » Wie meinen Sie das?«
Als hätte Fredrika etwas völlig Verrücktes gesagt, beugte sich Johanna besorgt über den Tisch. » Wie sollte sonst alles zusammenhängen? Warum hätte sie das sonst tun sollen?«
Die Falte zwischen Alex’ Augenbrauen vertiefte sich zu einer regelrechten Furche. » Was hat sie Ihrer Meinung nach getan?«
» Ich glaube, dass sie unsere Eltern hat ermorden lassen. Und jetzt hat sie es auch auf mich abgesehen. Als Strafe dafür, dass wir damals nicht für sie da waren, als ihr Leben auf der Wiese vor dem Sommerhaus zerstört wurde.«
»Ob sie Schutz braucht?«, fragte Fredrika, als die Fahrstuhltüren aufglitten und sie sich wieder auf ihrem Korridor befanden.
» Unklar«, murmelte Alex, » verdammt unklar, das alles.«
» Aber jetzt wissen wir wenigstens, dass wir beide recht hatten«, sagte Fredrika fast fröhlich.
Alex sah sie an.
» Es fing auf Ekerö an, genau wie wir gesagt haben.«
Alex schielte auf seine Armbanduhr. Die Zeit war wieder gerannt, es war schon nach Mittag, und Peder würde bald zur Kripo verschwinden, um bei dem Verhör von Sven Ljung dabei zu sein. Also beorderte Alex augenblicklich und mit lauter Stimme die Gruppe zur Besprechung in die Löwengrube. Keiner von ihnen wagte zu trödeln, als sie seinen Befehl vernahmen. Sogar Fredrika joggte halb in die Teeküche, um sich noch schnell
Weitere Kostenlose Bücher