Tausendschön
Hinweise. Jede für sich hatte sehr wohl ein Motiv, doch wenn sie beide schuldig waren, dann fehlte der Polizei ein deutliches Bild ihrer beider Beweggründe.
Karolinas Motiv war, so wie Johanna es beschrieben hatte, nicht sonderlich schwer zu verstehen. Wie nachhaltig konnte einen ein derartiges Erlebnis verstören? Sicherlich ausreichend, um hernach die Umgebung so zu manipulieren, wie Johanna es beschrieben hatte.
Doch Fredrika fragte sich doch, ob nicht irgendjemand sie hätte durchschauen müssen – das Ehepaar Ljung zum Beispiel, Ragnar Vinterman und nicht zuletzt Jakob Ahlbins Psychiater. Oder erst recht ihre Eltern. Hatte denn niemals jemand an ihrer Loyalität gegenüber dem Vater gezweifelt?
Es schauderte sie, als sie da saß. Die Fantasie der Menschen war grenzenlos, wenn es darum ging, anderen zu schaden.
Ein weiteres Bild von Karolina Ahlbin tauchte vor ihrem inneren Auge auf – ein Bild, das eine ganz andere Problematik enthielt. Johanna, die aus dem Familienbild ausgelöscht worden und am Ende diejenige gewesen war, die alles und jeden verloren hatte. Eine junge Frau, die vielleicht dringend beschützt werden musste.
Sie starrte auf das letzte Fax aus Bangkok. Es gab nichts, was darauf hinwies, dass Karolina Ahlbin Thailand verlassen hatte, und das war beruhigend. Aber wenn nun sie es war, die hinter dem Doppelmord an Marja und Jakob Ahlbin steckte, dann hatte sie offenbar Möglichkeiten, auch aus der Ferne einen derartigen Auftrag zu erteilen.
Entweder, dachte Fredrika, ist sie genauso krank, wie ihre Schwester Johanna es uns angedeutet hat. Oder …
Sie ließ die Papiere sinken, und ihr Blick schweifte aus dem Fenster, vor dem der Schnee fiel.
Oder Karolina war Opfer derselben Verschwörung, die dazu geführt hatte, dass ihr Vater ermordet worden war.
Und ihre Mutter.
Aber warum?
Unruhig warf Fredrika einen Blick auf die Uhr. Es ging auf vierzehn Uhr zu, und Spencer hatte noch immer nichts von sich hören lassen.
Sie nahm sich zusammen. Uns entgeht in der ganzen Sache etwas, erkannte sie und merkte, wie sie von Erschöpfung übermannt wurde. Uns entgeht gerade etwas richtig Großes.
Sie schluckte. Ihre Brust war vor Nervosität verkrampft. Sie sollte nach Hause gehen und den Fall den Kollegen überlassen, die noch genug Kraft und Ausdauer hatten. Sie sollte nach Hause gehen, sich hinlegen und schlafen. Oder Musik machen.
Als das Telefon auf ihrem Schreibtisch klingelte, musste sie alle Kraft zusammennehmen, um das Gespräch entgegenzunehmen.
» Fredrika Bergman?«
Schweigen, dann rasselnde Atemzüge. Im selben Augenblick wusste Fredrika, wen sie in der Leitung hatte.
» Måns Ljung?«
Noch mehr Laute, jemand sprach unzusammenhängend. Dann plötzlich sehr viel klarer: » Sie haben wegen Lina angerufen.«
» Ich bin sehr froh, dass Sie zurückrufen können.«
Ein angestrengtes Lachen schallte durch den Hörer. » Hat Mama behauptet, dass ich es nicht schaffen würde zu telefonieren?«
Ja, dachte Fredrika. Und ich war dumm genug, ihr das abzukaufen.
Ausschließlich vor dem Hintergrund dessen, was Elsie Ljung gesagt hatte, war bei der Polizei der Entschluss gefallen, ihren Sohn Måns gar nicht erst zu befragen, obwohl er doch viele Jahre lang Karolina Ahlbins Freund gewesen war.
» Ich sitze in einer sogenannten Entziehungsklinik, aber wenn es um Lina geht, kann ich immer reden. Entschuldigen Sie, wenn ich raspelig klinge … habe irgendeinen Infekt.«
Sein Gesundheitszustand war Fredrika herzlich egal, solange sie nur mit ihm reden konnte.
» Kein Problem.« Sie bemühte sich, professionell zu klingen. » Ich müsste eigentlich auch nur wissen, ob Karolina in den letzten Wochen versucht hat, Kontakt mit Ihnen aufzunehmen.«
Schweigen. Dann: » Warum fragen Sie?«
Mit der einen Hand am Hörer und der anderen auf dem Bauch, holte Fredrika tief Luft. » Weil ich befürchte, dass es ihr schlecht geht.«
Weiteres Zögern. » Sie hat vorige Woche angerufen und um Hilfe gebeten.«
» Worum ging es?«
» Sie konnte ihre Eltern nicht erreichen, und sie hatte Probleme, nach Hause zu kommen, weil irgendjemand ihren Mail-Account abgemeldet und ihre Rückreise aus Thailand storniert zu haben schien.«
Sie muss begriffen haben, dachte Fredrika. Und sie hatte Angst bekommen.
» Wussten Sie, dass sie in Thailand war?«
Måns hustete, und für einen Moment klang es, als hätte er den Hörer weggelegt.
» Nein«, sagte er dann. » Wir haben längst nicht mehr so viel Kontakt
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