Tausendschön
nicht genau wussten, auf welche Weise.
Mit einem zitternden Finger fuhr sie über das Bild. Früher einmal waren sie eine richtige Familie gewesen, eine Einheit, in der man sich umeinander kümmerte und füreinander sorgte. Ewig schien das her. Måns hatten sie schon lange an die Drogensucht verloren, und Viggo … Ein schwerer Seufzer entfuhr ihr. Viggo hatte schon immer den schwierigeren Weg gewählt. Es hatte sie erstaunt, dass er Polizist werden wollte, aber genauso hatte sie auch seine Weigerung erstaunt, die Narbe, die sein Gesicht entstellte, von den Ärzten korrigieren zu lassen.
» Das ist mein Markenzeichen«, hatte er verkündet, als sie das Thema zuletzt aufgebracht hatte.
» Wer sagt das?«, hatte Elsie entgegnet.
» Meine Liebste«, hatte er geantwortet und sich dann weggedreht.
Es war unmöglich, eine vernünftige Antwort aus ihm herauszubekommen. Er weigerte sich zu erzählen, wen er kennengelernt hatte, und er stellte auch klar, dass er nicht vorhatte, sie den Eltern vorzustellen. Die Monate vergingen und wurden zu Jahren. Sie hörten nicht mehr von der Liebsten und nahmen an, dass die Sache vorbei war.
Doch Elsie kannte ihren Sohn, und mit der Zeit wuchs ein Verdacht in ihr. Mit klopfendem Herzen hatte sie sich im vorigen Sommer vor seinem Haus auf die Lauer gelegt, und ihr Verdacht hatte sich bestätigt, als er Hand in Hand mit einer Frau, die Elsie auf hundert Meter Entfernung erkannt hätte, aus dem Haus trat.
» Diese Frau macht nichts umsonst«, hatte sie versucht, ihrem Sohn zu erklären, » glaub bloß nicht, dass sie ist, wofür sie sich ausgibt. Sie ist krank, Viggo, sehr krank.«
Doch er hatte sich geweigert, sie anzuhören, sondern auf sein Recht gepocht, seinen eigenen Weg zu gehen. Und was sollte eine Mutter schon darauf antworten.
Mit einer entschiedenen Geste steckte Elsie die Hausschlüssel in die Handtasche und machte die Eingangstür auf. Sie hoffte, dass die bei der Polizei nicht schon alle Feierabend gemacht hatten. Vor allem hoffte sie, dass die schwangere Polizistin da wäre. Sie hatte so viel von dem verstanden, das in Worten auszudrücken Elsie so schwerfiel.
Ich habe gedacht, ich würde uns alle schonen, dachte sie erschöpft. Stattdessen habe ich nur den Boden für unseren gemeinsamen Untergang bereitet.
Dann machte sie einen Schritt ins Treppenhaus und sah hoch.
Sie hörte sich selbst keuchen, als sie sah, wer da stand.
» Du?«, konnte sie noch hervorstoßen, als erstaunlich kräftige Arme sie in ihre Wohnung zurückschoben.
Der Schnee, der am Nachmittag gefallen war, hatte die Straße glatt gemacht, und wenn er auch nur den geringsten Gedanken daran verschwendet hätte, dann wäre er vielleicht stehen geblieben und hätte sich für die Nacht ein Hotel gesucht, als noch Zeit dazu war. Stattdessen richtete er seine Gedanken ausschließlich auf das Einzige, worüber nachzudenken ihm noch sinnvoll zu sein schien – dass er jetzt endlich seinen Schwiegervater aufsuchen, mit der Faust auf den Tisch hauen und sich ein für alle Mal seiner Tyrannei entledigen würde –, und ließ das Auto einfach fahren.
Die Straßen von Småland waren so vertraut und doch so verändert. Er fuhr durch ein Dorf nach dem anderen, und ihm traten die Tränen in die Augen, als längst vergessen geglaubte Erinnerungen auftauchten und Krater in seine Seele sprengten.
Ich war ein Idiot.
Zwei wichtige Anrufe hatte er getätigt, ehe er in Uppsala abgereist war. Der erste ging an seinen Arbeitgeber, der die Nachricht erhielt, dass er an den kommenden Tagen nicht bei der Arbeit erscheinen würde. Der andere war an Eva gerichtet, die er darüber informierte, dass er sie, sobald er von seiner Reise zurückkehrte, verlassen würde. Ihr Schweigen hatte ihn erstaunt, und ihr letzter Satz hatte ihn fassungslos gemacht: » Wirst du mich denn gar nicht vermissen, Spencer?«
Vermissen.
Das Wort brach ihm fast das Herz.
Ich habe in den letzten Jahren so viel vermisst, das kannst du dir gar nicht vorstellen, dachte er, als er auflegte.
Doch hier in dem warmen Auto vermisste er nichts und niemanden.
» Du stehst an einer Weggabelung«, hatte sein Vater zu ihm gesagt, als er aus Lund wegzog. » Ich verstehe nicht, wie genau deine Möglichkeiten aussehen, und du scheinst auch kein Interesse zu haben, mich darüber zu informieren. Aber sei versichert, wenn du eines Tages jemanden brauchst, um zu reden, dann werde ich dir zuhören.«
Ein ganzes Leben war vergangen, seit Spencer seinen Vater
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