Taxi
voneinander unabhängiger Variablen bestimmt«, sagte Rüdiger gelangweilt. »Die Entscheidung an einer Straßenkreuzung ist nur symbolisch besonders aufgeladen.«
Er kritzelte etwas in sein Buch und sah auf.
»Wieso hast du eigentlich nasse Haare?«, wandte er sich an mich.
Ich behauptete, dass ich eine Pause gemacht hätte und bei mir zu Hause eingeschlafen wäre.
»Ich habe geduscht, sonst wäre ich überhaupt nicht wieder in die Gänge gekommen.«
»Man kann umgebracht werden, abgestochen, bloß weil man einmal falsch abgebogen ist«, sagte Taximörder, holte eine pechschwarze Banane aus seiner Jackentasche und schälte sie.
»Willst du die etwa noch essen?«, fragte ich.
»Ich hab schon wieder einen Apostroph entdeckt«, sagte Rüdiger zu Dietrich. »In Rahlstedt am Bahnhof: Mike’s Imbiss! Achte mal drauf, wenn du hinkommst.«
Das war ihr gemeinsames Hobby. Restaurants und Läden zu entdecken, in deren Namensschildern fälschlicherweise ein Apostroph gesetzt war. Darüber konnten sie sich totlachen. Als wäre es das Dümmste, was es überhaupt gab.
»Da ist ganz zartes, weißes Fleisch drin«, sagte Taximörder und biss in seine matschige Banane.
»Na und«, sagte ich, »Sprache verändert sich ständig. Du redest ja auch nicht mehr Mittelhochdeutsch. Die Leute sehen amerikanische Fernsehserien, und jetzt schreiben sie ihre Ladenschilder eben anders. Wenn das ausreichend viele tun, wird der Duden geändert.«
»Schändung der Sprache ist Schändung des Volkes«, sagte Rüdiger, »aber da in Frauen selbst keine Schönheit ist, kann man natürlich auch nicht erwarten, dass sie Sinn für Sprachschönheit besitzen oder sich an einer flegelhaften Schreibweise stören.«
Ich war immer wieder beeindruckt, wie mühelos Rüdiger von jedem Thema, zu dem ich etwas sagte, auf die grundsätzliche Schlechtigkeit und Minderwertigkeit der Frauen überleiten konnte.
Aber diesmal erwiderte ich nichts, weil ich in Gedanken schon wieder halb bei Marco war. Möglicherweise lächelte ich sogar in mich hinein oder machte sonst etwas Verräterisches. Rüdiger sah mich jedenfalls misstrauisch an. Zum Glück kamen gerade sechs italienische Matrosen an den Taxistand. Dietrich und Rüdiger fuhren sie zu ihrem Schiff, und ich setzte mich zu Taximörder in den Wagen.
»Was ist eigentlich los mit dem?«, fragte ich. »Was stimmt mit dem nicht?«
»Mit wem? Mit Rüdiger? Ach, Rüdiger war schon immer so. Den darfst du nicht ernst nehmen.«
»Wieso seid ihr alle mit dem befreundet? Ist doch widerlich, was der zum Besten gibt. Auch wenn man zufällig keine Frau ist.«
Taximörder hob phlegmatisch die Schultern, schwenkte seinen überlangen Pony zur Seite und sah schräg an mir vorbei.
»Wir kennen uns eben alle schon so lange. Obwohl …« – er zog das Gesicht schief und rieb sich ausgiebig die weiche Wange – »also einiges war schon echt übel.«
Er bohrte flüchtig in der Nase, um dann fortzufahren:
»Einmal hat er uns einen Kassettenrekorder vorgespielt. Den hatte er unter dem Bett versteckt, während er mit seiner damaligen Freundin schlief. Die Frau hat lauter so Sachen sagen müssen. Dass sie eine Hure ist und so. Das war schon ziemlich übel.«
»Und wieso«, fragte ich, »wieso bist du immer noch mit dem befreundet?«
»Ich bin gar nicht richtig mit dem befreundet«, sagte Taximörder, »außerdem war der schon immer so.«
Ich fuhr bis zum Ende der Schicht. Zum ersten Mal seit längerer Zeit hielt ich wieder bis morgens durch. Kurz nach Sonnenaufgang brachte ich das Taxi zur Firma zurück und radelte unter einem rostrot gefleckten Himmel nach Hause. Nur wenige Menschen begegneten mir auf dem Heimweg, schweigsame Einzelwesen, die einem Ziel zustrebten. Jedes Mal, wenn ich an einer Bäckerei vorbeikam, streiften mich warme, einladende Gerüche.
35
Am nächsten Abend war ich gegen acht zufällig wieder in der Nähe der Schanzenstraße.
»Komm rein«, sagte Marco und sah zu mir auf. Wenn wir beide standen, war er fast zwei Köpfe kleiner als ich. Das hatte ich irgendwie verdrängt. Marco ging vor mir her zu seinem Bett und setzte sich auf den Futon. Ich setzte mich daneben. Im Sitzen fühlte ich mich schon wohler.
»Möchtest du Tee?« Ich schüttelte den Kopf.
»Es wundert dich wahrscheinlich, dass ich schon wieder da bin, aber ich wollte dir sagen …«
»Wundert mich überhaupt nicht«, sagte Marco. »Es ist für mich immer ziemlich schwierig, eine Frau dazu zu bekommen, dass sie mich küsst. Danach ist
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