Tea-Bag
einmal durch. Dann zog er das Päckchen zu sich heran und faltete das Papier auseinander. In ein kleines Stück Stoff gewickelt lag dort die Fotografie eines Kindes. Es war ein Mädchen. Auf der Rückseite stand »Irina«. Ein Kinderbild von Irina, dachte er. Oder von Tanja oder Inez oder was auch immer ihr Name sein mag. Er meinte, ihre Züge zu erkennen, obwohl das Mädchen auf dem Bild kaum mehr als drei Jahre alt war. Er legte das Foto weg und lehnte sich im Stuhl zurück. Sie bietet mir ihr Leben als Puzzle dar, dachte er. Vorsichtig gibt sie mir Stück um Stück, um sich vorzutasten, mir nie den Rücken zuzuwenden, sich nie der Gefahr auszusetzen, daß ich sie verraten könnte. Sie hat mir Tannenzapfen und Lüsterprismen gezeigt, sie hat preisgegeben, daß sie eine geschickte Taschendiebin ist, daß sie keine Angst hat, daß sie allein ist. Und jetzt gibt sie mir ein Bild von sich selbst als Kind.
In den folgenden Stunden saß Jesper Humlin an seinem Computer und gab alles ein, woran er sich erinnerte, seit er Tea-Bag zum ersten Mal begegnet war. Obwohl er nur die Absicht hatte, Notizen zu machen, war es, als würden bereits verschiedene Bücher in ihm Gestalt annehmen. Die einzelnen Erzählungen griffen ineinander. Als er den Computer ausstellte, fühlte er sich zum ersten Mal seit langem richtig
zufrieden. Da steckt allerhand drin, dachte er. Bislang habe ich nur in ihren Geschichten blättern dürfen. Aber wenn ich weiter zu meinen Besuchen nach Göteborg fahre, werde ich eines Tages etwas haben, worüber ich schreiben kann. Was sie sich für die Zukunft erträumen, muß mich nicht kümmern. Mit Sicherheit besitzt keine von ihnen das nötige Talent, um Schriftstellerin zu werden. Zu ihren potentiellen Fähigkeiten als Soapdarstellerinnen oder als Fernsehmoderatorinnen kann und will ich mich nicht äußern. Das bedeutet aber nicht, daß ich mit leeren Händen aus dieser Sache hervorgehen werde.
Dann rief er seine Ärztin an. Er hatte sich eine feste wöchentliche Telefonzeit erbettelt.
- Beckman.
- Hier ist Jesper Humlin. Es geht mir nicht gut.
- Das tut es doch nie. Was ist es diesmal?
Anna Beckman, seit über zehn Jahren seine Ärztin, ging auf eine sehr direkte Art mit ihm um, an die er sich immer noch nicht gewöhnt hatte.
- Ich befürchte, es ist etwas mit dem Herzen.
- Deinem Herzen fehlt nichts.
- Ich habe Herzklopfen.
- Das habe ich auch.
- Sprechen wir von dir oder von mir? Ich mache mir Sorgen um mein Herz.
- Ich mache mir Sorgen um meine Mittagspause. Du möchtest natürlich heute noch herkommen?
- Wenn es geht.
- Du hast Glück. Jemand hat abgesagt. Um zwei.
Sie beendete das Gespräch, ohne auf Antwort zu warten. Kaum hatte er aufgelegt, klingelte das Telefon. Es war Andrea. - Ist sie gegangen?
- Jedenfalls ist sie nicht hier. Was hat Märta gesagt?
- Sie macht sich Sorgen um dich. Sie findet, du solltest dir darüber Gedanken machen, was du eigentlich treibst.
- Was meint sie damit?
- Du ärgerst dich nur, wenn ich dir sage, was sie gesagt hat. - Ich ärgere mich nur, wenn du nicht sagst, was sie gesagt hat.
- Sie fand deine letzte Gedichtsammlung schlecht. Obgleich Jesper Humlin vor langer Zeit beschlossen hatte, sich nicht darum zu kümmern, was seine Mutter von seiner Schriftstellerei hielt, versetzte es ihm sofort einen Stich in den Magen. Aber das verriet er Andrea nicht.
- Ich will nichts mehr davon hören, was sie gesagt hat.
- Ich wußte, daß du dich ärgern würdest.
- Ich dachte, sie wollte wissen, wie man Leute umbringt.
- Das war ein Vorwand. Sie wollte über dich reden.
- Ich möchte nicht, daß ihr über mich redet.
- Aber wir werden heute abend miteinander reden. Ist dir das klar?
- Ich werde zu Hause sein.
- Das wollte ich nur wissen.
Mit dem Telefonhörer in der Hand blieb Jesper Humlin stehen, ganz leer im Kopf. Dann ging er zum Spiegel im Flur und betrachtete seine Sonnenbräune, die immer mehr zu verschwinden begann. Gleich morgen würde er ins Solarium gehen.
Er verließ das Haus und aß in einem kleinen Lokal um die Ecke zu Mittag, las die Zeitung und nahm anschließend ein Taxi zu seiner Ärztin. Der Taxifahrer stammte aus Lergrav auf Gotland und war sich nicht sicher, welchen Weg er am besten nehmen sollte.
Anna Beckman war fast zwei Meter groß, hager, hatte kurze Stoppelhaare und einen Ring in der einen Augenbraue. Jesper Humlin wußte, daß sie eine vielversprechende Karriere als Wissenschaftlerin abgebrochen hatte, da sie die endlosen
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