Techno der Jaguare
ihrer Körperfülle konnte sie sich nur langsam und schwerfällig bewegen, und obwohl sie nur ein paar Jahre mehr hatte als Lisa, sah sie doch weitaus älter aus. Hungrig nach Unterhaltung, erzählte sie zuerst von sich, dann bot sie Lisa an, ihr ein Zimmer zu vermieten. Das sei doch weitaus billiger als im Hotel, meinte sie. Schließlich kamen sie aber doch zum eigentlichen Thema.
***
Als es zur Pause läutete, strömten die Kinder auf den Flur. Alexander blieb auf seinem Platz. Er war wie versteinert. Er spürte, dass etwas Entscheidendes in seinem Leben geschehen war. Er wandte seine Augen nicht von dem Wort ab, auf das seine Lehrerin zuletzt gezeigt hatte. »Uuuhuuu! Uuuhuuu!«, hörte er noch immer seine Mitschüler feixen – ein lautes, erbarmungsloses Gelächter.
An der Wand des Klassenzimmers hingen große Plakate mit den schwarzen, unförmigen Buchstaben. Angewidert schaute er auf diese Formen, die für ihn keinen Sinn ergaben und unverständliche Abfolgen bildeten. Sie erinnerten ihn an Würmer oder, mehr noch, an Schlangenbabys, die er einmal gesehen hatte, und Ekel stieg in ihm auf.
Auch ein paar Mädchen waren im Klassenzimmer geblieben. Sie kicherten. Alexander vermutete, dass sie wieder über ihn lachten. Er wünschte sich, eine von ihnen würde aussprechen, was da an der Tafel stand. Was bedeutete dieses Buchstabengebilde, das sein Dasein verändern und es, Unheil verkündend, spalten sollte – in das Leben vor diesem Tag und das Leben danach …
***
Alexanders ehemalige Mitschülerin hatte nicht viel über ihn zu erzählen, also schilderte sie hauptsächlich den Tag, an dem sich herausstellte, dass er blind war.
Am Abend saß Lisa in ihrem Zimmer, blätterte in ihren Notizen, tippte einiges in ihren Laptop und knabberte gesalzene Erdnüsse. Dann überkam sie die Müdigkeit, und sie legte sich schlafen. Bis zum Kunstsymposium waren es nur noch zehn Tage. Die Hauptattraktion der Veranstaltung war das neueste Werk Alexanders, eine riesige Uhr, die auf dem Marktplatz der Stadt errichtet werden sollte. Wenn sie ihr Interview nicht bis dahin im Kasten haben sollte, würde die Zeitung ohne einen Beitrag zu dem bedeutendsten Kulturevent des Jahres in Druck gehen müssen … Als sich Lisa mit dem Rücken aufs Bett legte und alle Buchstaben ihres Alphabets das Laken berührten, hatte sie plötzlich die zündende Idee für ihren Brief, und sie sprang, wie von der Tarantel gestochen, wieder auf. Am nächsten Tag besuchte sie noch einmal die Psychologin in der Blindenschule und ließ sich eine neue Version ihres Briefes ausdrucken. Sie schaute wie gebannt auf das Punktmuster, als ob sie es lesen könnte, und ließ ihre Finger über die hervortretenden Punkte gleiten.
»Das Wort war U-H-R … Das Wort, das Sie nicht lesen konnten und das Ihr Leben veränderte.
Bis zur Präsentation Ihres Werks bleiben nur noch ein paar Tage. Aber auf Ihre Stunde brauchen Sie nun nicht mehr zu warten. Ich gratuliere Ihnen zu Ihrem großen Tag! Ihre Zeit ist gekommen …
Für mein Interview würde ich nur eine knappe Stunde brauchen. Ich bitte Sie sehr herzlich, mir eine Stunde Ihrer Zeit zu schenken!«
Aus Erfahrung wusste Lisa, dass Absagen meist verspätet kamen, Zusagen jedoch meist recht früh. Der Agent rief gleich am nächsten Tag an. Zuerst war ihr in Brailleschrift geschriebener Brief von Alexanders Sekretär gelesen worden; der hatte ihn zwar nicht ganz verstanden, aber dem Bildhauer davon berichtet. Und er hatte zugesagt. Nun bekam sie noch ein paar Tipps, Bedingungen und detaillierte Verhaltensregeln, die sie während des Interviews unbedingt befolgen sollte. Der Agent fügte hinzu, dass er sich das Recht vorbehalte, ihren Artikel vor der Veröffentlichung noch einmal mit ihr durchzugehen, und dass Lisa allen eventuellen Änderungswünschen zuzustimmen habe.
***
»Für wen schaffen Sie Ihre Kunstwerke? An welcher Zielgruppe orientieren Sie sich? Haben Sie überhaupt eine?« Lisa wurde die Situation immer unangenehmer. Sie hatte das Gefühl, dass ihr das Interview aus den Händen glitt.
»Sie sollten zwischen Kunst und Business unterscheiden.« Alexanders Stimme veränderte sich nicht, der Tonfall blieb immer derselbe. »Ich schaffe Kunstwerke, weil ich nicht anders kann. Die Welt wird durch meine Werke zwar nicht besser, aber zumindest weniger leer.«
Lisa hörte ihm verdrossen zu. Vor ihr lag der Zettel, auf dem sie sich ihre Fragen notiert hatte. Um ihr Befremden zu verbergen, schob sie schnell
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