Techno der Jaguare
noch eine Frage hinterher.
»Haben Ihre Werke vielleicht so etwas wie eine Schokoladenseite?«
»Menschen haben ihre Schokoladenseiten.« Alexander klopfte abermals genervt mit den Fingern auf das Knie. »Aber für mich mag das eine ganz andere Seite sein als für Sie … Davon abgesehen sollte man den Menschen als ein Ganzes betrachten und nicht nur seine Schokoladenseite.«
Lisa nickte verständnislos und fuhr fort:
»Gibt es jemanden oder etwas, das Einfluss auf Sie hatte oder Ihnen den Anstoß für Ihr Schaffen gab?« Lisa ratterte ihre Fragen jetzt nur noch so herunter, als würde sie einen Fragebogen ausfüllen.
***
»Macht dir das Kneten Spaß?«, fragte ihn seine Mutter einmal, als sie ihn besuchte.
Diese Frage, der schlanke, sanfte Körper der Mutter, dessen Duft er so sehr vermisste, und der bildhauernde Nachbar vermengten sich wie Knetmasse in Alexanders Gedanken. Er mochte es, den Ton zu formen, einfach deshalb, weil er sich gut dabei fühlte. Er schloss die Augen und berührte die weiche, formbare Masse mit den Fingerspitzen und knetete sie in seinen Händen, als ob er sich mit diesen Bewegungen von allen Gefühlen, die sich in seinem Herzen angestaut hatten, befreien könnte. Zweimal in der Woche hatten sie Werkunterricht, und am besten gefiel ihm daran, dass ihm dort niemand Vorschriften machte. Der Ton hatte nur eine Farbe – weiß.
Seine Mutter kam an diesem Tag nicht freiwillig in die Schule, sie war vom Kollegium dorthin bestellt worden. Der Lehrerin kamen Alexanders Tonfiguren merkwürdig vor, und deshalb hatte sie beschlossen, mit seiner Mutter darüber zu sprechen.
»Er stellt sehr interessante, aber eben auch eigenartige Figuren her. Falls er dabei bleibt, wird er es vielleicht noch zu etwas bringen, aber, wie gesagt, einige von ihnen sind ein wenig außergewöhnlich. Deswegen wollten wir sie Ihnen zeigen, vielleicht sagen sie Ihnen ja etwas … Oft spricht aus den Werken der Kinder ja ihr Unterbewusstsein zu uns.«
Das Gesicht der männlichen Figur war meisterhaft geformt. Stirn, Nase und Mund sahen sehr realistisch aus. Die Augen waren geschlossen, besser gesagt, verschlossen. An den Augenlidern hingen nämlich Vorhängeschlösser. Sie interpretierten die Figur als die Darstellung eines Blinden, daher hielten sie sich nicht lange damit auf. Ein Fernglas, das er genauso realistisch ausgearbeitet hatte, sah auf den ersten Blick ganz normal aus, aber wenn man es näher betrachtete, erkannte man, dass es aus zwei dicken, miteinander verbundenen Bleistiften bestand. Damit erhob sich die Frage, warum Alexander den teleskopischen Blick auf die Welt ausgerechnet mit Bleistiften in Verbindung brachte. In der Blindenschule hatte er nie etwas geschrieben, auch nie gemalt. Sie fragten seine Mutter, ob sich bei ihm eventuell schon früher Anzeichen einer besonderen Begabung für das Schreiben oder Malen gezeigt habe.
Bei einigen seiner Werke hatte er einen Kugelschreiber als Verbindungsstück benutzt, wie eine Brücke zwischen zwei Welten. Die Psychologin fragte, ob Mutter und Vater per Brief miteinander kommunizierten oder ob es ein Schriftstück gebe, das eine besondere Rolle in ihrem Leben spielte.
Verwirrt betrachtete Alexanders Mutter die Werke ihres Sohnes und beantwortete fast jede Frage mit einem Nein. Mit seinem Vater könne das nichts zu tun haben, sagte sie, da Alexander ihn nie gesehen habe.
Einmal hatte er eine Frau geformt – seine einzige weibliche Figur –, die anstelle von Händen Stifte hatte. Sie fragten seine Mutter, ob sie Malerin sei oder ob sie der Malerei viel Zeit gewidmet habe, was das Kind während des Zusammenlebens vielleicht als schmerzhaft empfunden haben könnte.
Wieder schüttelte die Mutter den Kopf, und sie zweifelte allmählich an der Stichhaltigkeit der psychologischen Theorien. Auch die Frage, ob sie das Kind eventuell zu hart bestraft habe, ärgerte sie. Die Psychologin wollte tatsächlich wissen, ob er vielleicht einmal übermäßig hart für eine Kritzelei an der Wand bestraft worden sei.
Das auffälligste Werk war die arm- und beinlose Figur eines Mannes, dessen Augen von Stiften durchbohrt wurden.
»Das ist ein Hinweis auf Gewalt«, sagte die Psychologin. »Wir wissen ja, dass Alexander nicht von Geburt an blind ist«, fügte sie hinzu und fragte die Mutter, ob seine Erblindung vielleicht eine Folge körperlicher Gewalt sein könne.
Alexander hatte nicht erwartet, dass seine Figuren solch eine Aufmerksamkeit erregen würden. Ebenso wenig
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