Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Techno der Jaguare

Techno der Jaguare

Titel: Techno der Jaguare Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manana Tandaschwili , Jost Gippert
Vom Netzwerk:
hinunter. Sie öffnete die Tür. Erstarrte. In einer Ecke der Hütte lag Dio, zusammengekrümmt auf dem Boden. Sein weißes Hemd, das Adna so mochte, war blutüberströmt. Die Augen waren schon völlig leer. Er war bereits weg, weit weg. Adna rief ihn, schrie, bis ihre Stimme rau wurde, bis sie ihr fremd vorkam. Erschrocken sah sie sich um. Die Stille erdrückte sie. Sie sank neben Dio zu Boden. Sie küsste den Sterbenden, wollte ihm Küsse für ein ganzes Leben mitgeben. Ihre Tränen rollten über seine Wangen. Sie legte ihren Kopf in Dios blutige Hände. Verstummte. Die Gefühle ebbten ab. Sie legte sich neben ihn. Legte ihre Hand um seinen noch warmen Hals. Behutsam küsste sie ihn hinter dem Ohr.
    Die von Dios Körper ausgehende Kälte weckte sie. Sie rannte weg, rannte, ohne zurückzusehen. Sie rannte, bis sie erschöpft zu Boden fiel. In der Ferne gewahrte sie eine andere Hütte. Eine sehr warme, alte Hütte.
    ***
    Dio trug den roten Rollkragenpullover. Sein langer Hals erschien darin noch länger. Adna wollte ihm nicht in die Augen schauen. Sie spürte, sie würde es nicht ertragen können. Aufgeregt erzählte Dio etwas, das Adna nicht verstand. Jeder Gedanke zerbarst an seinen hervortretenden blauen Halsadern. Sie lehnte sich an die Wand. Sie hatte Angst, fürchterliche Angst! Um Dio. Dio war einer von denen, denen kein langes Leben beschieden ist. Die Unendlichkeit der eigenen Einsamkeit überwältigte sie. Sie stand leise auf. Dio konnte nicht verstehen, was mit Adna los war. Warum sie an diesem Tag die Tür wortlos hinter sich schloss.
    Das Blatt aus der Kindheit
    Die Platanenblätter raschelten, als Adna die Hüttentür öffnete. Sie lächelte. Eine eigenartige Freude überkam sie beim Knistern der welken Blätter zu ihren Füßen. Sie beugte sich nach vorne. Sie suchte nach einem Blatt, das sie vor Jahren mit Sao zusammen gefunden hatte, im Dorf.
    ***
    Staubig war die Gasse und voller Tau. Kühler Herbstgeruch lag in der Luft. Sao sprach viel und, soweit er konnte, weise. Sie waren damals sehr jung, zwölf Jahre vielleicht. Adna vermisste die Art, wie sie damals Dinge wahrgenommen hatte, jene Art, die für immer verloren gegangen, zusammen mit der Kindheit verschwunden war. Adna und Sao lernten damals das Träumen. Sie träumten sorglos, sie träumten viel. Adna verstand jetzt, dass sich von jenen Wünschen weder in ihrem noch in Saos Leben etwas erfüllt hatte, zumindest vermutete sie das. Es war ein gewöhnlicher Abend, doch irgendetwas lag in der Luft. Beide waren sie irgendwie verwirrt. Das Mädchen war ruhig und lächelte in sich hinein. Der Junge war laut und strahlte. Dieser Abend war irgendwie falsch und authentisch zugleich. Sao hatte das Blatt mit den unendlich dünnen und sich verzweigenden braunen Linien gefunden. Es war in den Zweigen des Baums hängen geblieben. Mit Mühe erreichte es der Junge. Sao schien zufrieden und stolz. Ein Romantiker war dieser Junge. Ihm war aufgefallen, dass das Blatt die Linien auf Adnas Handfläche nachzeichnete.
    Jahrelang bewahrte Adna das Blatt auf. Sie hielt es im Bücherschrank versteckt. Keiner sollte es finden und damit auch nur im Geringsten jenen Abend antasten, der für sie einzigartig blieb. Im Laufe der Zeit hatte sie Sao vergessen, das Blatt auch. Nach Jahren waren sie sich zufällig begegnet in dem Durcheinander der Stadt und hatten sich zurückhaltend und höflich nacheinander erkundigt. Beide vermissten sie in diesem Moment das Dorf, aber keiner sagte es laut. Nachdem jeder seines Weges gegangen war, ärgerten sie sich über diese unverhoffte und verkrampfte Begegnung und vergaßen den unterkühlten Abend schnell wieder.
    ***
    Adna wollte nicht mehr aufhören mit der Suche nach dem Blatt. All diese Blätter sahen gleich aus. Sie verglich ihre Handflächen mit den Blättern. Sie suchte weiter, immer weiter. Schließlich fand sie es. Holte es aus dem vielen Gelb heraus. Das Blatt, übersät mit vielen dünnen braunen Linien, zeichnete Adnas Handfläche exakt nach. Adna presste es an ihre Brust. Sie atmete den Duft ein. Aus irgendeinem Grund glaubte sie, in den geschwungenen Linien des Blattes Parallelen zu ihrem und Saos Leben ablesen zu können. Adna lächelte. Sie warf das Blatt wieder auf den Boden und verließ die Hütte. Adna spürte, dass sie irgendwann wieder in das Dorf zurückkehren und das Blatt aus ihrer Kindheit zusammen mit Sao, wenn auch mit einem ergrauten Sao, wiederfinden würde.
    Der Pfad zur siebten Hütte
    Der Pfad zur siebten

Weitere Kostenlose Bücher