Tee macht tot
„Schschsch…“ aus einem der Fenster im Stockwerk unter ihnen endlich wieder Ruhe einkehren ließ.
Esther blickte auf ihre Armbanduhr. Irgendwann in der Nacht würde die Schwester sicherlich bei ihrem nächtlichen Rundgang hier vorbeikommen, und die hätte sicherlich Grund sich darüber wundern, warum hier vier Personen eine Tote anstarrten. Sie würde gar die Polizei rufen, dann wäre das herrlich geregelte Leben aller auf einen Schlag vorbei. Diese Gedanken ließ sie nun auch die anderen wissen und gab zu bedenken, dass sie in dem Fall höchstwahrscheinlich allesamt für die nächsten 25 Jahre hinter Gitter wandern würden.
Reinhold addierte seine 78 Jahre mit den verhängten 25 Jahren im Gefängnis und gelangte zu dem Schluss, dass er mit 103 Jahren eindeutig zu alt für einen Neuanfang war.
22
Esthers Vorschlag, das Zimmer von Frau Weber einfach unauffällig zu verlassen und sich in ihre eigenen Räume zu begeben, wurde einstimmig angenommen.
„Sollen wir ihr nicht den Kopf bedecken, bevor wir gehen? Schließlich ist sie doch jetzt tot“, wollte Frieda wissen, bevor sie das Zimmer verließen. Da kam ihre Fürsorge als ehemalige Krankenschwester durch.
„Soweit sie weiß, ziehen sich Tote nicht selbst die Decke über den Kopf“, wandte Ingrid scharfzüngig ein.
Esther gab ihr recht, wenngleich sie auch meinte, dass Ingrid dies vielleicht etwas netter hätte formulieren können.
Durch den geöffneten Türspalt warf sie einen Blick hinaus in den Gang. Niemand war zu sehen, so gab sie das Zeichen, um zu verschwinden. Schnell huschten die drei anderen zur Tür hinaus, wobei schnell in ihrem Alter ein relativer Begriff war. Waren doch alle dem Umstand müder Beine ausgesetzt, bis auf Ingrid, die sah sich eher mit dem Umstand müder Arme konfrontiert.
Zu viert traten sie den Rückzug an. Reinhold hielt die Hand von Frieda fest umklammert. Ein versehentliches Verschwinden wäre unter diesen Umständen alles andere als hilfreich gewesen.
Ingrids gummierte Räder gaben auf dem Linoleumboden ein leises Quietschen von sich, das in ihren Ohren klang, als würde ein Zug auf die Bremse steigen.
„Haben wir jetzt einen Mord begangen?“, flüsterte Frieda und ließ sich weiter brav von ihrem Reinhard hinterherziehen.
„Nein“, beruhigte Ingrid sie leise. „Es war ein Unglück … ein Versehen … ein versehentliches Unglück, aber sicherlich kein Mord. Im Grunde ist es ja auch nichts anderes als bei unseren Vormietern gewesen.“
„Nein!“, wehrte Esther entschieden ab, „das ist ganz und gar nicht dasselbe, die Loibl und der Herr aus Zimmer 9 sind an der Leichenblume gestorben und nicht an Kamille erstickt.“ Sie schüttelte den Kopf. „Nein, das kannst du nun wirklich nicht miteinander vergleichen. Es war nicht der Donnerstagstee, es war Kamille, und die führt unter normalen Umständen zu einem Wohlgefühl.“
„In diesem Fall ja wohl nicht“, warf Reinhard witzelnd ein.
Missbilligend guckte Esther ihn an, was Ingrid ein Kichern entlockte. Solche Unglücke durfte man nicht allzu verbissen sehen. Sie hatte genug solcher hinter sich gebracht, um zu wissen, dass der Tod kam, wann er wollte.
Mit seiner Frieda war Reinhold nun vor seinem Zimmer angekommen. Leise verabschiedeten sie sich und waren auch schon hinter ihrer Tür verschwunden.
„Was ist eigentlich in ihrem Donnerstagstee genau drin?“, wollte Ingrid wissen, als sie allein im Flur standen.
„Colchicum autumnale, die Herbstzeitlose“, erklärte Esther bereitwillig. „Das Gift darin wirkt wie Arsen. Ich nenne sie immer 'Leichenblume'.“
„Sieh an!“, meinte Ingrid. „Ein passender Name, wenn auch makaber!“ Ingrid grinste. Nun war auch sie vor ihrem Zimmer angekommen und wünschte Esther eine angenehme Nachtruhe. „Sie wird sehen“, warf sie Esther zum Abschied noch beruhigende Worte zu. „Es wird alles gut!“
Esther wagte dies zu bezweifeln, lächelte ihre Bedenken jedoch tapfer weg. Allein machte sie die letzten Schritte bis zu ihrem Zimmer. Das alte Herz klopfte wie wild, als auch sie in endlich angekommen war, und das lag nicht an der Anstrengung. Einen Moment blieb sie hinter ihrer Tür stehen und lauschte in die Ruhe hinein. Im nächsten Augenblick hängte sie ihren Morgenmantel ordentlich an den Haken ihrer Schranktür und begab sich ins Bad. Mit zitternden Händen versuchte sie, den schrecklichen Abend von sich zu waschen. Aus ihrem Spiegelbild starrte ihr
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