Tee macht tot
riss dabei Mund und Augen auf und versuchte, sich aufzusetzen. Esther glaubte, dass Elfriede gleich aus dem Bett springen wollte, deshalb sagte sie: „Bleib mal schön ruhig!“, und schüttelte Elfriede das Kissen kurz auf. „Morgen ist auch noch ein Tag.“
„Stimmt, warte mit dem Aufstehen bis morgen!“, pflichtete Frieda ihr bei, die ebenfalls glaubte, Elfriede wolle mit neuem Optimismus aus dem Bett hüpfen.
Doch als Elfriedes Gesicht leicht die Farbe veränderte, vom Blassen ins Rötliche und vom Rötlichen ins Blaue, wurde allen klar, dass Elfriede keineswegs der Lebensmut gepackt hatte, sondern ganz im Gegenteil.
Verdutzt und mit weit aufgerissenen Augen beobachteten Esther und ihre Freunde das Geschehen mit sehr gemischten Gefühlen.
Während Esther Sorge hatte, dass die Tasse klirrend zu Boden fallen könnte und womöglich das gesamte Stockwerk aus ihren Betten hopsen würde, um zu sehen, was hier los war, schloss Frieda ängstlich die Augen und wandte das Gesicht ab.
Reinhold legte den Arm schützend um seine Frau.
Ingrid kraulte nervös den kleinen Hund auf ihrem Schoß.
Alsdann tat Elfriede Weber ihren letzten Atemzug und ließ den Kopf zurück ins Kissen sinken.
Betreten schwiegen die vier Überlebenden und schauten sich in der Hoffnung, irgendeiner würde hierfür eine Erklärung haben, an.
Der Erste, der seine Sprache wiederfand, war Reinhold Paulsen. Aus welchem Grund auch immer, wahrscheinlich aber, weil seine Frau einmal Krankenschwester gewesen war, war ihm die Lage, in der sich Frau Weber zu befinden schien, sehr wohl bewusst.
Seine Stimme flatterte etwas, als er ungläubig feststellte, dass die gute Frau Weber tatsächlich so spontan und unvorbereitet vor ihrer aller Augen gestorben sei. Dennoch wollte er wissen, ob seine Frau das bestätigen könnte.
Die war zwar schon ziemlich lange aus dem Beruf draußen, aber sie glaubte, dass sie einen Tod immer noch feststellen konnte. So viel könne sich im Laufe der Zeit daran ja nicht verändert haben. Frieda Paulsen trat an das Bett heran und machte: „Hm …“ Prüfend zog sie Elfriedes Augenlid nach oben und fühlte mit der anderen Hand den Puls. Der Vermutung ihres Mannes konnte sie nur kopfnickend zustimmen.
Daraufhin blickte Reinhold Paulsen auf seine Uhr. „Somit kann ich den Todeszeitpunkt, wenn auch nicht ganz freiwillig, auf einundzwanziguhrsiebenunddreißig festlegen.“
„Vielleicht war was mit dem Tee? Hat sie den Donnerstagstee ausgeschenkt?“, wollte Ingrid wissen und rollte sich mit ihrem Rollstuhl näher an das Bett heran.
Verschlafen hob ihr kleiner Krambambuli unterdessen den Kopf auf ihrem Schoß und blinzelte sie an. Anschließend rollte er sich wieder zusammen und schlief weiter. Im Gegensatz zu den Menschen war er nicht so schnell aus der Fassung zu bringen.
„Was soll mit dem Tee gewesen sein? Heute ist nicht Donnerstag. Ich habe nichts weiter reingetan außer Kamille, Rose und Melisse“, sagte Esther entrüstet. Oder? Nein, ganz sicher nicht, sie würde sich daran erinnern. Es waren weiße Rosenblätter zur Blutreinigung, Melisse, um den Appetit anzuregen, Kamille, weil diesem Kraut allgemein wohltuende Eigenschaften nachgesagt wurden, ach ja, und fein geschnittener frischer Ingwer für die Abwehrkräfte. Aufgegossen, wirkte dieser Tee wahre Wunder. Nun richtete sie den Blick in ihre eigene Tasse. Ein paar feine Flocken Kamille schwammen an der Oberfläche.
Esther musste schlucken. Frau Weber war doch nicht etwa an Kamille gestorben, oder etwa doch? Unglücklich sah sie die tote Frau an. Nein, dachte sie, Kamille hatte noch niemanden umgebracht. Aber was wenn doch? Konnte das mit Sicherheit ausgeschlossen werden?
Nein, das konnte es nicht, der tote Beweis lag schließlich hier vor ihnen. Heijeijei, was für ein Dilemma, so hatte sie sich das wirklich nicht vorgestellt! Aber wer konnte denn schon ahnen, dass diese reizende alte Dame an frisch gebrühtem Kräutertee ersticken würde?
„Und was machen wir jetzt?“ Friedas Stimme zitterte. Hilfesuchend legte sie ihre kleine, ebenfalls zitternde Hand in die von Reinhold. „Sollen wir nicht besser die Schwester holen?“
Einen kurzen Moment dachte man darüber nach, als ein Schrei die Stille zerriss und alle erschrocken zusammenfuhren.
Vor dem Fenster lieferten sich eine Katze und ein Marder ein Gefecht mit ungewissem Ausgang. Der Krach war ohrenbetäubend. Stocksteif rührte sich niemand von der Stelle, bis ein
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