Teeblätter und Taschendiebe
Wand hängen zu lassen, wo doch das Haus voll fremder Leute war, also hatte sie das Bord heimlich abgenommen und in der Speisekammer hinter den Backblechen versteckt. Keiner der Anwesenden war in der Speisekammer gewesen, weil es keine Veranlassung dazu gegeben hatte, und selbst wenn sie dort gewesen wären, hätten sie das Schlüsselbrett ohnehin nicht bemerkt. Die Liste der möglichen Verdächtigen schien immer kleiner zu werden, und die meisten von ihnen wünschten sich, Genevieve hätte das Brett einfach in Ruhe gelassen. Max, Jem, Egbert und Eugene Porter-Smith schienen aus dem Schneider zu sein. Keiner von ihnen hatte den Auktionssaal länger als ein paar Minuten verlassen, gerechnet von dem Zeitpunkt an, als sie hineingegangen waren, bis zum letzten Schlag des Auktionshammers.
Die jungen Schauspieler und Schauspielerinnen hatten zwar einstimmig bestätigt, daß Mary die ganze Zeit anwesend gewesen sei, doch leider konnte niemand mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, wie lange Dolph fort gewesen war, nachdem er Ted Ashe an die Luft befördert hatte.
Genevieve und Henrietta hatten schlichtweg keine Zeit gehabt, um irgend etwas anzustellen. Sarah zählte theoretisch zu den Verdächtigen, da sie zugegeben hatte, mehrere Stunden allein oben im Haus gewesen zu sein, und problemlos Dolphs Schlüssel hätte fortnehmen können, entweder um ihn selbst zu benutzen oder aber einem Komplizen zu geben. Auch Osmond Loveday hatte kein stichhaltiges Alibi. Er war so oft aufgetaucht und wieder verschwunden, daß weder Mary und Henrietta noch die kellnernden Schauspieler mit Gewißheit sagen konnten, wo er sich wann aufgehalten hatte.
Darüber hinaus gab es eine unbestimmte Zahl anderer potentieller Verdächtiger, da niemand sagen konnte, wie viele Gäste in der fraglichen Zeit draußen gewesen waren, einmal ganz abgesehen davon, daß man nicht einmal wußte, wann genau die fragliche Zeit anzusetzen war. Als Lieutenant Codfin sie schließlich verließ, damit sie das bißchen Schlaf genießen konnten, das ihnen noch verblieben war, bestand kein Zweifel daran, daß seine Haupt verdächtigen Dolph Kelling und Harry Burr hießen. Harry hatte sich zusammen mit George ins Gärtnerhaus zurückgezogen. Dolph saß zwischen den anderen am Tisch, aß viel und sagte fast nichts.
»Ganz bestimmt hätte jemand den Schuß gehört«, wiederholte Mary.
»Vielleicht haben einige Leute tatsächlich etwas gehört, es aber nicht als Schuß gedeutet«, meinte Max und nahm sich noch ein Brötchen. Es hatte so lange gedauert, das Haus wieder einigermaßen auf Vordermann zu bringen, daß aus dem Frühstück ein Brunch geworden war. »Der Knall einer kleinkalibrigen Pistole ist nämlich nicht sehr laut.«
»Und schließlich haben während der ganzen Zeit Champagnerkorken geknallt«, beendete Sarah seinen Satz, damit Max in Ruhe sein Brötchen kauen konnte.
»Warum meinen Sie, daß es eine kleine Pistole gewesen ist?« fragte Osmond Loveday. »Ich für meinen Teil würde die größte Pistole nehmen, die es gibt, wenn ich so eine abstruse Tat planen würde.«
»Damit würden Sie sich ziemlichen Ärger einhandeln«, klärte Max ihn auf. »Großkalibrige Waffen sind unhandlich, schwer und auffällig. Sie machen einen Riesenkrach, verursachen häßliche Wunden, und man wird sie anschließend schwerer wieder los.«
»Wenn es wirklich eine kleinkalibrige Waffe war, dann müßte man doch die Kugel noch in der Leiche finden, nicht wahr?« fragte Sarah. »Ich frage mich, ob der Mörder den Eindruck erwecken wollte, daß Ashe mit der Spitzhacke erschlagen wurde, oder ob er lediglich Zeit gewinnen wollte, um die Spuren zu verwischen und die Waffe verschwinden zu lassen. Oder ob er Ashe so abgrundtief gehaßt hat, daß er ausgerastet ist? Grauenhafter Gedanke.«
»Also, ich könnte mir vorstellen, daß er ihn absichtlich ins Gerätehaus gebracht hat und mit der Spitzhacke durchbohrt hat, um den Verdacht auf Dolph zu lenken«, sagte Mary. »Und ich bin stocksauer deswegen, das könnt ihr mir glauben. Sarah, trink deine Milch aus und denk lieber nicht an Waffen und Spitzhacken. In deinem Zustand solltest du dich wirklich mit angenehmeren Dingen beschäftigen.«
»Sehr wohl, Mylady«, sagte Sarah. Sie war es gewöhnt, von älteren Verwandten dominiert zu werden. »Trotzdem finde ich -«
»Entschuldigen Sie bitte, Mrs. Kelling«, unterbrach Henrietta. »Lieutenant Codfin ist wieder da und wünscht Mr. Kelling zu sprechen.«
»Ach ja?« sagte Mary. »Dann
Weitere Kostenlose Bücher